Die Stuttgarter Choreografin und Tänzerin Smadar Goshen hat ihre deutsch-israelische Familiengeschichte in einer Performance verarbeitet. Der halbstündige Outdoor-Walk führt vom Pragfriedhof bis hin zur Gedenkstätte „Zeichen der Erinnerung“ – der Ort, von dem aus die Nationalsozialisten Goshens Urgroßmutter und Tausende weitere Jüdinnen und Juden deportierten.
Smadar Goshen erzählt ihre Familiengeschichte
Über Kopfhörer hört das Performance-Publikum von „Passing“ die Stimme von Choreografin Smadar Goshen, untermalt von Musik. Teils live, teils voraufgezeichnet erzählt sie von ihrer Familiengeschichte: Wie ihr Großvater Sigfried Kahn nach Israel kam und wie seine Mutter, Paula Kahn, alleine in Nazi-Deutschland zurückblieb.
Sechs Tänzerinnen und Tänzer in bunten Uni-Hosen und Blusen leiten das Publikum bei leichtem Regen durch den Pragfriedhof.
Ein Schicksal von vielen
Goshen, die in ihren Kreationen teils als Tänzerin auftritt, hält sich in „Passing“ zurück. „Meine Geschichte ist bei weitem nicht die einzige. Ich bin Teil von vielen“, sagt sie.
„Daher machte es für mich keinen Sinn, diese Geschichte nur mit meinem eigenen Körper zu erzählen. Ich wollte mit mehr Darstellern zusammenarbeiten, die die Menge repräsentieren.“
Die Tänzerinnen und Tänzer machen auf ihrem Weg immer wieder Halt. Mal verdecken sie ihre Gesichter mit halbdurchsichtigen Vliesen, mal muten einstudierte Tanztheater-Elemente in Kreisformation einem Volkstanz an, mal improvisieren sie mit vorsichtigen, zeitgenössischen Bewegungen, sammeln Steine auf und verteilen sie bedächtig im Publikum.
Endstation alter Nordbahnhof
Ihren Höhepunkt findet die Performance an den Überresten der Gleise des alten Nordbahnhofs. Dort wo Paula Kahn, Goshens Ur-Großmutter, den Zug zum Konzentrationslager in Riga besteigen und in ihren Tod fahren musste.
Rücklings lassen sich die Tänzer immer und immer wieder von der Bahnsteigkante ins Gleisbett fallen. Und enden schließlich auf den Prellböcken der Gleise. Sachte singen sie „All Night Long I Cried“ der israelischen Dichterin Zelda Mishkovsky.
Publikum ist bewegt
Die Aufführung geht dem Publikum unter die Haut, teils stehen Tränen in den Augen. Die Performance habe sie tief berührt, sagt die Zuschauerin Luciana Mugei. „Ich bin immer noch aufgewühlt. Ich finde es schrecklich, wie viele Menschen von diesem Ort wegtransportiert wurden.“
Die Mauern entlang der Gleisüberreste tragen die Namen der von hier aus deportierten Menschen. Smadar Goshen entdeckte den Ort per Zufall und fragt sich seitdem, ob ihr Umzug von Israel nach Stuttgart Zufall oder doch Schicksal war.
„Es hat meine Erfahrung, hier in Deutschland zu sein, verändert. Es gibt mir das Gefühl, mehr dazu zu gehören, als ich dachte.“
An die Geschichte erinnern
Umgezogen ist Smadar Goshen, weil ihr Lebensgefährte an der Universität Stuttgart ein Studium begann. Nur einmal zuvor war sie mit ihrem Großvater in Deutschland gewesen. Er hatte ihr seinen Heimatort Baisingen im Kreis Tübingen gezeigt und auch in Israel Teile der deutschen Kultur nahe gebracht.
Neben ihrer Aufarbeitung der Frage nach Heimat und Zugehörigkeitsgefühl, will Goshen auch Impulse für die Zukunft setzen, besonders seit dem Angriff der Hamas auf Israel im vergangenen Oktober.
„Dadurch wird mir klar, wie wichtig es im Moment ist, an die Geschichte zu erinnern. Erstens, an die jüdische Geschichte auf der ganzen Welt. Zweitens, um die Geschichte der Kriege, des Hasses und der Gewalt aus der Perspektive von 80 Jahren zurück zu betrachten.“
Mehr Auseinandersetzungen mit dem Erinnern
Wenn Schmerz zu Streit führt Gemeinsames Verarbeiten von Katastrophen: Wann funktionieren Erinnerungsorte?
Keine Katastrophe ohne Mahnmal: Erinnerungsorte gehören zur Verarbeitung von kollektiv erlebten Traumata dazu. Aber nicht jedes Denkmal wird angenommen, wie das Scheitern eines geplanten Denkmals im Ahrtal zeigt.
Nationalsozialismus Erinnerungskultur in Familien - Ausstellung im Mainzer Landtag fordert zum Hören, Schauen und Mitmachen auf
Welche Rolle spielten die eigenen Vorfahren im Nationalsozialismus? Und wie viel wurde und wird darüber in Familien gesprochen? Eine neue Wanderausstellung stellt Ergebnisse eines Forschungsprojektes zu diesem Thema vor.