Immer mehr Menschen - in Rheinland-Pfalz wie auf der ganzen Welt - haben starkes Übergewicht. Vor allem Kinder und Jugendliche aus bildungsschwachen Familien sind weiterhin stark betroffen.
In der Corona-Pandemie mit Einschränkungen und Schließungen war der Aufschrei groß: Durch fehlenden Schul- und Vereinssport würden Kinder und Jugendliche sich weniger bewegen und immer dicker werden. Doch ob Pandemie oder nicht: "Ich sehe da keine Änderung", sagt Dr. Stephan Buchner, Kinderarzt aus Mainz-Gonsenheim und Sprecher des Berufsverbands der Kinder- und Jugendärzt*innen in Rheinland-Pfalz. Übergewicht und Fettleibigkeit (Adipositas) seien keine Phänomene, die erst mit der Pandemie schlimm geworden seien, sagt Buchner.
Der Anteil der stark Übergewichtigen an der Bevölkerung habe sich seit 1990 mehr als verdoppelt, unter Heranwachsenden zwischen 5 und 19 Jahren sogar vervierfacht, berichtete die Fachzeitschrift "The Lancet". Für Deutschland gebe es für die Zeit nach der Pandemie noch keine verlässlichen Daten, ergänzt Christine Joisten von der Deutschen Adipositas Gesellschaft: "Wir müssen aber davon ausgehen, dass es mehr wird, vor allem in Bevölkerungsgruppen, die zuvor schon betroffen waren."
Übergewicht - in der Regel mehr als eine Ursache
"Ich sehe zunehmend ganze Familien, die adipös sind", berichtet Buchner aus seiner Praxis. "Meist ist es eine toxische Mischung aus zu wenig Bewegung, falscher Ernährung und der Lebensweise." Als Beispiel nennt er den Umgang mit Mediengeräten und Social Media: "Schon Kinder verbringen sehr viel Zeit damit. Und dabei bewegt man ziemlich wenig, da reicht der Daumen."
Doch nicht alle Menschen in Rheinland-Pfalz und ganz Deutschland sind gleichermaßen betroffen, wenn auch der Trend zu Übergewicht sich durch alle Bevölkerungsgruppen zieht. Menschen, allen voran Kinder aus Familien mit niedrigem Bildungsstand sind seit Jahrzehnten viel stärker betroffen, "die Schere geht da weit auseinander", erklärt Joisten. "Den Versuchungen der Werbung zu widerstehen ist extrem schwer und vielfach leider auch eine Frage der Bildung."
Die Menschen müssten lernen, kompetent mit Lebensmitteln und ihren Zusammensetzungen umzugehen. Lernen, dass nicht alles, was gesund scheint, auch gesund ist, zum Beispiel Wasser mit Geschmack oder Säfte, sagt Joisten. "Viele wissen nicht, dass Saft mehr Zucker hat als Cola. Oder manche Cerealien: Die sind kein Frühstück, die sind Süßigkeiten." Wünschenswert sei daher, dass die Lebensmittelindustrie sich ihrer Verantwortung bewusster würde, sagt sie weiter. Ähnlich sieht es Kinderarzt Buchner: Er beobachtet Eltern, die schon Zweijährigen oft sogenannte Quetschies, Fruchtmark in Quetschbeuteln, geben, in der Annahme, sie seien gesund, es sei ja schließlich Obst. "Aber die sind hochkonzentriert, da ist viel zu viel Fruchtzucker drin." Vor allem so früh damit zu beginnen sei schwierig.
"Gesundheit muss bei allen politischen Entscheidungen Rolle spielen"
Neben der Ernährung spielt auch die Bewegung eine Rolle. Und da ist es nicht mit erzieherischen Maßnahmen innerhalb der Familie getan. Joisten sieht die Politik in der Pflicht, um die Gesundheit von Kindern und Jugendlichen zu schützen. Ein Beispiel: Spielplätze. "Es braucht diese Bewegungsräume, die sauber und ordentlich sein müssen, damit Familien sie mit ihren Kindern nutzen." Sind diese Plätze vermüllt und kaputt, werden sie nicht genutzt. "Das Thema Gesundheit muss in allen politischen Entscheidungen eine Rolle spielen", sagt Joisten. "Kindergesundheit hat keine Parteifarbe."
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Politisch sollte Kindergesundheit eine große Rolle spielen - denn die Folgen für die Betroffenen und das Gesundheitssystem sind enorm: Bei unter Achtjährigen habe Übergewicht vor allem orthopädische Folgen, etwa für die Gelenke, erklärt Joisten. Später folgen laut Joisten und Buchner typische Folgeerkrankungen: Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Diabetes, Leberverfettung. Zivilisationskrankheiten, die die Betroffenen sowie die Gesundheitssysteme schwer belasten.
Negative Folgen auch für die Psyche
Neben den konkreten körperlichen Folgen kommen psychische Erkrankungen hinzu, die Belastung beginne auch dort schon im Kindesalter, sagt Joisten: "Schon im Kindergartenalter fangen die Hänseleien an, mit Folgen bis hin zu Depressionen."
Doch es gebe auch Lichtblicke, sagen die Fachleute. So schreite die Forschung weiter voran und habe zum Beispiel genetische Faktoren ausgemacht, die bei einigen Kindern dafür Sorgen, dass übergewichtige Kinder partout nicht abnehmen können. Auch Medikamente können ein Mittel sein, den Weg aus der Übergewichtigkeit heraus zu finden, sagt Oepen - wenn auch natürlich Nebenwirkungen beachtet werden müssten.
Forderungen an die Politik
Notwendig sei vor allem aber Prävention, auch darin sind sich die Fachleute weitestgehend einig. Kinderarzt Buchner etwa befürwortet ein Verbot von an Kinder gerichtete Werbung für sehr zucker-, salz- und fetthaltige Lebensmittel. "Freiwillig wird sich das nicht ändern, die Industrie verdient da schließlich Geld mit", sagt Buchner.
Die Bundesregierung hat konkret solch ein Werbeverbot im Koalitionsvertrag festgeschrieben. Bundeslandwirtschaftsminister Cem Özdemir (Grüne) hat seine Pläne für ein Kinder-Lebensmittel-Werbegesetz Ende Februar 2023 vorgestellt. Seitdem befinden sich die Gesetzespläne in Abstimmung der unterschiedlichen betroffenen Bundesministerien.
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