Warum Sonnenschein eine Gefahr für die Sicherheit ist und wieso zwei Jahre nach Kriegsbeginn die Angst davor, vergessen zu werden, so groß ist: SWR Reporterin Lena Bathge war mit einem Hilfskonvoi aus Trier in der Ukraine.
Der Einschlag einer Rakete ist ein Geräusch wie kein anderes. Ein dumpfes Grollen, ein helles Bersten von Beton, ein unheimlicher Nachhall. Es ist das, was uns kaum zehn Minuten nach unserer Ankunft in Charkiw begrüßt. Es ist ein Geräusch, das wir sofort erkennen - obwohl wir es nie zuvor in unserem Leben gehört haben. Es ist ein Geräusch, das im Kopf bleibt, auch Wochen später und lange nach unserer Rückkehr.
In den Tagen vor unserer Abreise überschlagen sich die Nachrichten über eine bevorstehende russische Großoffensive auf die Region Charkiw. Wir müssen uns entscheiden: Gehen wir das Risiko ein? Am Ende sind wir - neun Freiwillige - uns einig. Wir werden auch dieses Mal wieder nach Charkiw fahren. Es ist der zehnte Hilfsgütertransport der Trierer Organisation Viele Hände für die Hoffnung e.V. und der zweite, den ich begleite.
Zwei Jahre sind eine lange Zeit, um in Angst zu leben
Innerhalb weniger Minuten schlagen zwei Raketen im Stadtgebiet von Charkiw ein. Unser erster Weg führt uns hinab in den Keller. Die zweite Rakete trifft ein Ziel so nah an unserer Unterkunft, dass wir die Erschütterungen in den Wänden spüren. Uns allen ist bewusst, dass die Bedrohungslage sich seit unserem letzten Transport in die Ukraine im Sommer massiv verschärft hat. Doch für uns sind es nur ein paar Tage und wir können jederzeit in ein friedliches Deutschland zurückkehren. Die Menschen in Charkiw ertragen diesen Krieg nun schon seit zwei Jahren und das ist eine sehr lange Zeit, um in Angst zu leben.
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Aufgeben ist auch keine Option
Die Menschen, die uns begegnen, schwanken zwischen Kampfgeist und Kriegsmüdigkeit. Einerseits sind es vor allem die Luftangriffe, die die Menschen mürbe machen. Denn sie kommen meistens nachts, wenn die Bewohnerinnen und Bewohner Charkiws in ihren Wohnungen sind, sich vom Alltag erholen und schlafen wollen. Und es gibt keine Garantie dafür, dass die nächste Rakete nicht das eigene Haus trifft. Andererseits ist Aufgeben für die meisten Menschen auch keine realistische Option. Kein Ort macht das deutlicher als das Kinder-Rehabilitationszentrum in Charkiw.
Ins Leben gerufen hat es die Polizistin Alena. "Alle haben mich für verrückt erklärt. Im Mai haben wir hier mit dem Umbau angefangen, im Herbst wollten wir eröffnen", erzählt sie bei unserem Besuch. Im Gepäck haben wir Kinderspielzeug und Schaumstoffpuzzlematten für den Fußboden. Keiner habe geglaubt, dass sie und ihr Mann es rechtzeitig schaffen würden. Doch sie haben allen Kritikern zum Trotz das Gegenteil bewiesen und innerhalb weniger Monate aus einer alten Industriehalle einen Treffpunkt zum Spielen, Lernen und Kindsein gemacht. Durch den Krieg traumatisierte Kinder sollen hier langsam wieder einen Weg zurück ins Leben finden.
Mut und Hoffnung machen mit Theater und Tanz
Es herrscht helle Aufregung an diesem Morgen, denn in wenigen Minuten startet eine Theater- und Tanzaufführung. Die meisten von uns neun Freiwilligen sprechen kein Ukrainisch. Doch das ist auch nicht notwendig, um die Leichtigkeit und die Freude der Kinder wahrzunehmen, die beinahe mit den Fingern greifbar ist. Die Handlung des Stücks könnte bezeichnender nicht sein: Ein böser Zauberer versucht den Kindern ihre Träume zu stehlen. Es geht darum, den Kindern zu zeigen, dass sie die Kraft und die Stärke besitzen, sich gegen Unrecht zu wehren. Es geht um Empowerment und Selbstwirksamkeit.
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Strahlender Sonnenschein ist ein Problem für die Sicherheit
Als wir am Tag drauf in Richtung Lyman in der Oblast Donezk fahren, strahlt die Sonne von einem wolkenlosen, klaren Himmel auf uns herab. Für die Laune ist das gut, nicht aber für unsere Sicherheit. Denn Lyman liegt nur knapp sechs Kilometer vor der Front und ist regelmäßigem Artilleriebeschuss ausgesetzt. Zwei Tage zuvor waren wir schon einmal in Lyman, um unsere Hilfsgüterlieferung vorzubereiten. Es war neblig und trüb - keine guten Bedingungen für Artilleriefeuer oder Drohnen. Diesmal ist das anders.
Bisher haben wir unsere Hilfsgüter in fertig gepackten Paketen direkt an die Menschen verteilt. Doch weil die Sicherheitslage das nicht zulässt und wir Menschenansammlungen vermeiden wollen, um uns und andere nicht zu gefährden, laden wir Shampoo, Toilettenpapier, Spülmittel, Zahnpasta und Zahnbürsten palettenweise aus. Im Rathaus in Lyman wird alles eingelagert, sodass die Bewohnerinnen und Bewohner des Ortes sich einzeln ihre Sachen abholen können.
Die Angst, vom Westen vergessen zu werden
All das wäre jedoch nicht möglich, wären wir nicht in Begleitung einer kleinen Gruppe ukrainischer Soldaten. Sie bringen uns über die Checkpoints, haben immer die Umgebung im Blick und sorgen damit für unsere Sicherheit. Nach getaner Arbeit laden sie uns in ihre Unterkunft zum Essen ein.
Sergiej, ein junger Mann aus der Einheit, war bis vor zwei Jahren Koch in einem Restaurant und zaubert selbst unter widrigsten Bedingungen noch Essen auf den Tisch, das seinesgleichen sucht. Viktor, Chef der Einheit und Versorgungsoffizier, erzählt uns stundenlang von seiner Tochter und zeigt uns Bilder von ihrer Kommunion auf seinem Handy.
Sie sind ganz normale Menschen, deren Leben heute von Einsamkeit und Tragödien geprägt ist. Unser Besuch ist dagegen eine willkommene Unterbrechung des grauen Alltags im Krieg. Gleichzeitig schwingt bei allem immer auch die subtile Angst mit, von uns im Westen vergessen zu werden. Immerhin sind inzwischen zwei Jahre vergangen und es gibt noch so viele andere Krisenherde in der Welt.
Dabei geht es bei unserem Besuch nicht um die materiellen Hilfsgüter, die wir nach Lyman bringen. Es geht darum, dass Kampfgeist und Moral in den Köpfen und Herzen der Menschen gegen Kriegsmüdigkeit und Hoffnungslosigkeit gewinnen, dass man weitermachen kann - irgendwie. Sergiej bringt es mit wenigen Worten auf den Punkt: "Es zeigt uns, dass man uns nicht vergessen hat, dass da draußen noch Menschen sind, die an uns denken." Und das ist mindestens genauso wichtig, wie Hilfsgüterlieferungen oder militärische Unterstützung.