Seit genau zehn Jahren gibt es für Eltern einen Rechtsanspruch auf einen Kita-Platz. Die Realität: Tausende Kita-Plätze fehlen - auch in der Vorder-und Südfalz. Welche Bilanz zieht eine Kita-Expertin?
SWR Aktuell: Seit genau zehn Jahren haben Eltern in Deutschland einen Rechtsanspruch auf einen Kita-Platz. Wie fällt Ihre Bilanz aus?
Claudia Theobald: Ich würde sagen: Es ist kein Grund zu feiern! Es gibt zwar seit zehn Jahren diesen Rechtsanspruch, aber bereits damals haben Fachleute klar gesagt: Wenn die Politik den Rechtsanspruch verwirklichen will, dann müssen rechtzeitig mehr Erzieherinnen ausgebildet werden, es muss viel Geld in die Hand genommen werden, um die Kitas auch räumlich auszustatten, dass Kinder ab einem Jahr gut betreut werden können. Aber da ist einfach viel zu wenig passiert! Bis heute sind die Mindestanforderungen an eine gute Qualität in keinem Bundesland umgesetzt, auch in Rheinland-Pfalz nicht.
SWR Aktuell: Was genau sind diese Mindestanforderungen?
Theobald: Zeit ist die Währung der Frühpädagogik. Es geht um einen kindgerechten Personalschlüssel, der es ermöglicht, jedem Kind die notwenige Zuwendung, Bildung und Förderung zu geben. Für die Kita-Kinder unter drei Jahren wäre laut Fachleuten eine Fachkraft auf drei Kinder, für Kinder von drei bis sechs Jahren eine Erzieherin oder ein Erzieher für 7,5 Kinder notwendig. Stattdessen ist aktuell in den rheinland-pfälzischen Kitas eine Erzieherin im Kita-Alltag für zehn Kinder von zwei bis sechs Jahren zuständig.
Bedarf deutlich gestiegen Zehn Jahre Rechtsanspruch - aber immer noch zu wenig Kita-Plätze in RLP
Seit zehn Jahren gibt es einen Rechtsanspruch auf Kinderbetreuung ab dem ersten Lebensjahr. Aber noch immer suchen in Rheinland-Pfalz tausende Eltern vergeblich einen Kita-Platz.
SWR Aktuell: Was heißt das für die Kinder?
Theobald: Wir werden den Kindern nicht gerecht! Ich kann das aus meinem Alltag sagen: Wir können eingeschränkt und punktuell gute Frühpädagogik leisten und mit den Kindern auch schöne Dinge machen. Aber was für das einzelne Kind an Zuwendung, Zeit und Möglichkeiten bleibt - das ist zu wenig. Die Kinder bekommen nicht das, was sie brauchen. Unter diesen Umständen sind die Rahmenbedingungen in unseren Kitas nicht entwicklungsförderlich.
SWR Aktuell: Warum fehlen Fachkräfte?
Theobald: Der Personalmangel ist nicht über Nacht gekommen. Er ist über die Jahre immer schlimmer geworden. Die Ausbildungskapazitäten, die sind in den Ländern aufgestockt worden. Wir bilden heute mehr Erzieher aus als noch vor zehn Jahren kam. Aber das steht in keinem Verhältnis zum Bedarf! Und das geht ja nicht! Es gibt einen Rechtsanspruch und man kann genau ausrechnen, wie hoch der Bedarf ist – und trotzdem hoppel ich dem immer hinterher. Und zwar so, dass diese Lücke zwischen Bedarf und Platzangebot in den Kitas immer größer wird Und die Lücke zwischen den Mindestanforderungen an eine gute Qualität und den tatsächlichen Zuständen in den Kitas - die ist auch größer statt kleiner geworden.
SWR Aktuell: Das Fachpersonal fehlt – was bedeutet das für die Qualität der Kitas? Werden Kitas zu reinen Verwahranstalten?
Theobald: Das ist natürlich hart ausgedrückt. Dass sie reine Verwahranstalten sind, würde ich nicht sagen. Aber der gesetzliche Rechtsanspruch bezieht sich nicht nur auf die Betreuung. Jedes Kind hat den Anspruch auf bedürfnisorientierte Betreuung, frühkindliche Bildung und individuelle Förderung. Um das zu leisten, brauchen die Fachkräfte auch ausreichend Verfügungs- und Teamzeiten, um die Arbeit vor- und nachzubereiten. Diese Zeiten sind in der Personalisierung von 1:10 nicht mitberücksichtigt. Sie können sich vorstellen: Eine Erzieherin für zehn zwei -bis sechsjährige Kinder – da erklärt sich das von selbst, dass damit eine bedürfnisorientierte Betreuung, gute frühkindliche Bildung und individuelle Förderung eben nur eingeschränkt leistbar ist. Und das ist halt alles andere als ideal. Seitdem ich Erzieherin bin, hat sich die Kita immer weiter in Richtung Verwahranstalt verschoben. Aber von "reinen Verwahranstalten" zu sprechen, das wäre mir zu hart.
SWR Aktuell: Was hätten sie gerne anders? Wie ist ihre Sicht?
Theobald: Ich gebe mir jeden Tag Mühe, das Beste zu tun, was möglich ist. Ich habe schon auch Freude an der Arbeit mit den Kindern. Das ist nach wie vor ein wunderbarer Beruf. Ich möchte auch keinen anderen. Und ja, also ich kann schon sagen, dass ich da auch meinen Spaß habe. Aber immer in dem schmerzlichen Bewusstsein, dass ich nicht so für die Kinder da sein kann, wie ich das möchte.
SWR Aktuell: Was fällt im Kita-Alltag hinten runter?
Theobald: Das Thema Sprachförderung, das wird ja gerade viel diskutiert. In einer Kindergartengruppe von zwei bis sechs Jahren befindet sich etwa die Hälfte der Kinder noch im Grundspracherwerb. Dann haben wir noch entwicklungsverzögerte Kinder und Kinder mit Migrationshintergrund, die ja auch zwei Sprachen bewältigen müssen. Wir merken, dass immer mehr Kinder mit nicht altersgerecht entwickelten und guten Deutschkenntnissen eingeschult werden. Und das hängt auch damit zusammen, wir auch da nicht genug Zeit haben.
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SWR Aktuell: Was braucht es aus Ihrer Sicht?
Theobald: Die Kinder bräuchten dringlich Erwachsene als Sprachvorbilder, die viel Zeit haben, um mit ihnen zu lesen, Ausflüge zu machen, die Welt zu entdecken, nachzufragen, zu forschen, Gespräche zu führen. Da haben wir manchmal ein bisschen Zeit dazu. Aber wenn ich sehe, wie viel Zeit fürs einzelne Kind bleibt, ist das zu wenig!
SWR Aktuell: Wie würde Ihre "Wunsch-Kita" aussehen? Was fordern Sie?
Theobald: Wir wollen, dass die Mindestanforderungen an Personal und Räumlichkeiten, die jetzt schon seit Jahren auf dem Tisch liegen, etabliert werden. Das wird nicht über Nacht gehen. Ein Kita- Qualitätsgesetz könnte für bundeseinheitliche Standards sorgen, die dann Schritt für Schritt umgesetzt würden. Ein Anfang wäre zum Beispiel, dass Personalausfällle verbindlich vertreten werden und dass es in den Kitas einen Vertretungspools gibt mit Leuten, die die Teams unterstützen. Dass die Kita-Leitungen so freigestellt werden mit Deputaten, dass sie ihre Arbeit gescheit machen können. Und, dass wir Fachkräfte von Verwaltungsaufgaben, von hauswirtschaftlichen Aufgaben, entlastet werden. Jede Schule hat eine Schulsekretärin. Warum gibt es das nicht in jeder Kita?
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SWR Aktuell: Wo stehen Kitas in zehn Jahren?
Theobald: Ich hoffe, dass es in zehn Jahren besser aussieht. Was es dann vielleicht auch leichter macht, ist, dass die Kinderzahlen dann auch zurückgehen. Aktuell müssen wir die Qualität in den Blick nehmen, anstatt die Standards weiter abzusenken. Diesen Trend sehen wir in allen Bundesländern: Plötzlich können dann auch Nicht-Fachkräfte in der Kita arbeiten oder es kommt dann auch nicht auf ein paar mehr Kinder in der Gruppe nicht mehr an. Und keiner achtet auf die Kinder! Was macht es mit den Kindern im Alltag, wenn so viele Kinder auf engem Raum sind?
SWR-Aktuell: Was macht es denn tatsächlich mit den Kindern?
Theobald: Es ist laut, wir haben oft eine Reizüberflutung. Und die Kinder in Rheinland-Pfalz sind jetzt sieben oder neun Stunden durchgehend in der Kita. Und das ist ein Unterschied, ob ich als Kind drei-oder dreieinhalb Stunden am Tag dort bin - da kann vielleicht so einen Trubel auch ganz nett sein -, oder ob ich das sieben Stunden habe als kleines Kind! Wenn man eine Mutter fragt: "Glauben sie ihr Kind würde gut groß werden kann, wenn es den ganzen Tag einen Indoor-Spielplatz besucht", würde sie sagen: "Sicherlich nicht." Wir müssten daher Räume und Personal dementsprechend anpassen, wenn wir wollen, dass junge Kinder ganztägig betreut werden. Wir wissen heute, was Kinder brauchen, um sich gut entwickeln zu können. Die Erkenntnisse der Neurobiologie und Entwicklungspsychologie sind unter Fachleuten unstrittig. Wir haben aber ein gewaltiges Umsetzungsproblem, weil man das benötigte Geld nicht in die Hand nehmen will. Das ist in allererster Linie ein Geldthema. das sollte es aber nicht sein. Wir sind als Gesellschaft dazu verpflichtet, für ein gesundes, entwicklungsförderliches Aufwachsen unser Kinder zu sorgen.
Zur Person:
Claudia Theobald ist die Vorsitzende des Kita-Fachkräfteverbands Rheinland-Pfalz in Neustadt und arbeitet seit 34 Jahren als Kita-Erzieherin.
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