Mögliche Folgen für Ermittlungsverfahren

Krisenforscher sieht Fehler in Gutachten zur Flutkatastrophe

Stand
Autor/in
Constantin Pläcking
SWR-Reporter Constantin Pläcking aus dem Studio Koblenz.

Krisenforscher Frank Roselieb sieht im Flut-Gutachten der Staatsanwaltschaft Koblenz handwerkliche Fehler. Diese Aussagen könnten das Ermittlungsverfahren beeinflussen.

Frank Roselieb vom Institut für Krisenforschung in Kiel hat sich auf SWR-Anfrage hin mit dem Gutachten befasst und sieht handwerkliche Fehler: Der Gutachter nimmt laut Roselieb offenbar an, dass die Flut an der Ahr 2021 so außergewöhnlich gewesen sei, dass es keinen Vergleich gebe. "In der Krisenforschung nennt man das einen Schwarzen Schwan'", so Roselieb.

Krisenforscher: Vergleichbare Hochwasser gab es 1804 und 1910

Davon könne man aber hier nicht ausgehen, denn die Hochwasser in den Jahren 1804 und 1910 seien in ihrer Dimension vergleichbar gewesen. Darauf habe auch schon eine Untersuchung des Karlsruher Instituts für Technologie (KIT) kurz nach der Flut hingewiesen. "Das macht einige zentrale Kernaussagen des Gutachtens brüchig", so Roselieb.

Der Krisenforscher kritisiert, dass das Gutachten zu dem Schluss kommt, dass die Kreisverwaltung ohne spezifische Vorbereitung die Gefahr eines maximalen oder sogar noch höheren Hochwassers gar nicht habe erkennen können. Zumindest nicht bis Menschen konkret in Gefahr waren. In dieser Aussage stecke, so Roselieb, bereits die Annahme, dass die Flut ein nie dagewesenes Ereignis gewesen sei.

Die Annahme eines "Schwarzen Schwans" ist bereits in der Aufgabenstellung der Staatsanwaltschaft Koblenz zu finden. So heißt es im Gutachten, das dem SWR vorliegt, dass der Gutachter berücksichtigen solle, dass die Flutkatastrophe außergewöhnlich sei.

Roselieb: Kreisverwaltung hätte Führungssystem ausbauen müssen

Die Staatsanwaltschaft Koblenz zitiert den Gutachter: "Die anwesenden Personen haben alles gegeben - das Führungssystem ließ nur nicht mehr zu." Diesen Satz kann Roselieb nicht nachvollziehen, denn es wäre im Vorfeld auch die Aufgabe der Kreisverwaltung gewesen, das Führungssystem auszubauen. Hier wünscht sich Roselieb mehr Differenzierung.

Region Koblenz

Kreise in RLP ziehen Lehren aus Ahr-Flut Krisenforscher Roselieb zu Katastrophenschutz: "Der Druck im Kessel darf nicht nachlassen"

Nach der Ahrflut haben viele Kreise in RLP ihren Katastrophenschutz überarbeitet. Es gebe aber noch viel zu tun, sagt Krisenforscher Frank Roselieb im Interview mit SWR Aktuell.

Am Morgen SWR4 Rheinland-Pfalz

Der Gutachter habe außerdem bereits zuvor geschrieben, dass nicht bekannt sei, was die Mitglieder der Technischen Einsatzleitung erlebt hätten, der Leiter gedacht habe und wie es zu Entscheidungen gekommen sei. Mit dem zitierten Satz ziehe der Gutachter daher Schlüsse, die plausibel aus dem untersuchten Material gar nicht gezogen werden können, was er sogar selbst einräume. Der Gutachter könne damit auch gar nicht wissen, wie viel die Anwesenden gegeben hätten.

Gutachten belastet Ex-Landrat Jürgen Pföhler

Positiv bewertet Roselieb, wie der Gutachter die mutmaßlichen Fehler von Ex-Landrat Jürgen Pföhler (CDU) zusammenträgt. Das Gutachten belaste den damaligen Landrat von Ahrweiler auch in zentralen Punkten: So sei dieser vorab sehr gut über den mangelnden Katastrophenschutz im Landkreis informiert gewesen.

Pföhler hat demnach unter anderem gewusst, dass es keinen Verwaltungsstab gibt, dass er selbst keinen Lehrgang an der damaligen Akademie für Krisenmanagement, Notfallplanung und Zivilschutz des Bundes (AKNZ) - heute Bundesakademie für Bevölkerungsschutz und Zivile Verteidigung (BABZ) - gemacht hat und dass der Stabsraum nicht ausreichend gewesen war.

RLP

Empfehlungen für Katastrophenschutz verabschiedet Abschluss Enquete-Kommission: Das sollte sich nach der Ahrflut ändern

Wie können die Menschen in Rheinland-Pfalz künftig besser vor Katastrophen wie der Ahrflut geschützt werden? Die Enquete-Kommission, die dazu Strategien entwickelt hat, hat am Montag den Abschlussbericht verabschiedet.

Es sei außerdem gut belegt, dass Pföhler versucht habe, die Verantwortung auf Dritte zu übertragen. Selbst bei Stufe 5, also bei Katastrophenalarm, in der Flutnacht, sei er seiner Pflicht im Stab nicht nachgekommen. An diesem Punkt habe er nicht mehr delegieren dürfen.

Hätten durch bessere Vorbereitung Menschen im Ahrtal gerettet werden können?

Roselieb wundert sich deswegen auch darüber, dass der Gutachter sich zurückhält, Kausalketten zu benennen: Zwar würde im Gutachten ein Zusammenhang zwischen Prävention und den Möglichkeiten der Krisenbewältigung gezogen, aber dass durch eine bessere Vorbereitung auch Menschenleben hätten gerettet werden können, diesen Schluss ziehe der Gutachter nicht.

"Überspitzt formuliert verhält er sich wie der Arzt, der zwar viele Untersuchungen durchführt und Laborergebnisse sichtet, sich aber nicht auf eine bestimmte Krankheit festlegen will", sagt Roselieb. Eine solche Diagnose helfe nicht weiter. Roselieb kenne das aus anderen vergleichbaren Gutachten auch anders, dort würde beispielsweise mit Prozentzahlen angegeben, wie viele Menschenleben hätten gerettet werden können.

Die Staatsanwaltschaft spricht genau in diesem Zusammenhang selbst von einem "Dilemma". Sie muss nämlich nachweisen, welche Nicht-Handlung der Verantwortlichen konkret zu welchen Toten geführt hat.

Hinterbliebenenanwalt: Gutachtenauftrag war "ergebnisorientiert"

Der Koblenzer Anwalt Christian Hecken, der mehrere Hinterbliebene der Flutkatastrophe als mögliche Nebenkläger vertritt, nannte das Gutachten einen "Skandal". Auf die Einschätzung von Roselieb angesprochen, kündigte Hecken gegenüber dem SWR an, für das Ermittlungsverfahren eine ausführliche Stellungnahme zu erbitten: "Es entsteht der Eindruck, dass durch das Gutachten eine öffentliche Hauptverhandlung um jeden Preis vermieden werden soll."

Roselieb habe klar herausgestellt, dass der Auftrag der Staatsanwaltschaft Koblenz an den Gutachter "ergebnisorientiert" - also voreingenommen - erfolgt sei. Roseliebs Aussage entwerte das Gutachten. Hecken möchte sie zu einem Teil der Emittlungsakte machen und fordert, dass die Staatsanwaltschaft gegen Ex-Landrat Pföhler Anklage erhebt.

Mehr zur Flutkatastrophe im Ahrtal

Rheinland-Pfalz

Der Hochwasser-Blog für RLP Aufbauhilfe: Unternehmen haben mehr Zeit für Anträge

In den von der Flutkatastrophe zerstörten Regionen in Rheinland-Pfalz läuft der Wiederaufbau. Viel ist geschafft, viel ist noch zu tun. Hier die aktuelle Lage.

Koblenz

Staatsanwaltschaft gab Gutachten in Auftrag Katastrophenschutz im Ahrtal: Gutachter kritisiert Land

Im Gutachten, das die Staatsanwaltschaft zur Flutkatastrophe in Auftrag gab, wird nicht nur der Kreis Ahrweiler, sondern auch das Land kritisiert. Es gebe Fehler im System.

SWR4 RP am Morgen SWR4 Rheinland-Pfalz

Aktuelle Berichte, Videos und Reportagen Dossier: Leben nach der Flutkatastrophe

Die Flutkatastrophe an der Ahr und in der Region Trier liegt drei Jahre zurück. Manches ist repariert oder wiederaufgebaut, doch vieles noch lange nicht geheilt. Das ist der aktuelle Stand.

Koblenz

Ermittlungen zur Flutkatastrophe an der Ahr Neues Flut-Gutachten: Strafrechtliche Bewertung schwierig

Der Kreis Ahrweiler war nicht ausreichend auf die Flutkatastrophe 2021 vorbereitet. Das geht aus einem neuen Gutachten hervor, das der Staatsanwaltschaft Koblenz jetzt vorliegt. Schon gibt es erste Überlegungen, die Beweisaufnahme im U-Ausschuss wieder aufzunehmen.

SWR4 RP am Dienstag SWR4 Rheinland-Pfalz

Rheinland-Pfalz

Zweiter Jahrestag der Flutkatastrophe Katastrophenschutz in RLP: Das hat sich seit der Flut im Ahrtal getan

Als Folge der verheerenden Flut im Ahrtal soll der Katastrophenschutz in Rheinland-Pfalz neu und besser aufgestellt werden. Das hat sich seitdem bisher verändert.

SWR Aktuell am Morgen SWR Aktuell

Bad Neuenahr-Ahrweiler

Storytelling-Podcast Die Flut – Warum musste Johanna sterben?

Juli 2021: Die 22-jährige Johanna Orth aus Bad Neuenahr-Ahrweiler ist auf dem besten Weg in eine erfüllte Zukunft. Gerade fertig mit der Ausbildung, frisch verliebt und mit der Aussicht auf eine eigene Konditorei. Dann reißt sie die Flutwelle aus dem Leben. Der Host Marius Reichert ist selbst in Bad Neuenahr-Ahrweiler zu Hause und berichtete als Reporter aus Nordrhein-Westfalen und Rheinland-Pfalz über die Flut. Er kennt die Schicksale der Betroffenen - auch die Geschichte von Johanna. Zusammen mit ihren Eltern begibt sich Marius auf die Suche nach Antworten rund um die Ereignisse dieser verhängnisvollen Nacht: Wie kam Johanna ums Leben? Wie konnte es so weit kommen? Warum wurde Johanna nicht früher gewarnt? Wer trägt Verantwortung? Johanna soll den mehr als 180 Todesopfern der Flut ein Gesicht geben, so der Wunsch der Eltern, denn der Schrecken dieser Katastrophe darf nicht in Vergessenheit geraten. Mithilfe verschiedener Gesprächspartner - Betroffene, Angehörige, Politiker:innen, Einsatzkräfte, Expert:innen - geht Marius Reichert diesen Fragen auf den Grund. Die ersten sechs Folgen sind am 1. Juli 2022 erschienen. Ein Update zum zweiten Jahrestag erscheint am 7. Juli 2023: Wie geht es den Orths zwei Jahre nach der Katastrophe und wie steht es um die Aufarbeitung? 

Der Podcast ist eine Produktion von SWR und WDR. 

Hier noch eine Warnung: In diesem Podcast werden die Todesumstände von Johanna und der Umgang mit ihrem Tod explizit beschrieben. Wenn euch Themen wie Tod, Trauer oder Suizid belasten oder ihr selbst von den Ereignissen betroffen wart und traumatisiert seid, dann hört euch den Podcast besser nicht an oder nicht allein. Hilfe findet ihr z.B. bei der Telefonseelsorge oder beim Traumhilfe-Zentrum im Ahrtal: www.thz-ahrtal.de