Neue Orts-Chronik in Lehmen:

Wie ein Geschirr eine 80 Jahre alte Freundschaft rettete

Stand
Autor/in
Bruno Nonninger

Lehmen an der Mosel hat seine bisherige Orts-Chronik erweitert. Der Grund: Eine Freundschaft und ein Versprechen aus dem Jahr 1942.

Eine Ortschronik gibt es in Lehmen schon länger. Ein Teil dieser: Die Geschichte des Moselortes während der NS-Zeit. Doch vieles darin basiert auf Überlieferungen und Erzählungen der Lehmener. Genaue Kenntnisse über die Schicksale der jüdischen Familien gab es kaum, Vieles war bruchstückhaft.

Bis Ulrike Moritz dem Lehmener Christoph Stoffel 2021 ihre unglaubliche Familiengeschichte erzählt. Damit legt sie das erste Puzzle-Teilchen. Sie ist die Enkelin des damaligen Lehmener Volksschullehrers Eberhard Marx.

Neben Eberhard und Susanna Marx wohnen damals Sigmund und Thekla Feiner. Die Feiners sind jüdischen Glaubens, die Familien und deren Töchter Freunde. Seit 1933 lebten sie nebeneinander in der Dorfmitte am heutigen Razejungeplatz.

Christoph Stoffel sagt: "Die neue Ortschronik und die ganze Geschichte, die wir heute kennen, entstand eigentlich aus dieser bewegenden Familiengeschichte."

Auf einem Tisch liegen die alte und die neue Ortschronik der Gemeinde Lehmen
Die alte und die neue Orts-Chronik der Gemeinde Lehmen

Chronik und Denkmal sollen an jüdische Familien erinnern

Denn diese hat alles ins Rollen gebracht, auch die umfangreichen Recherchen zu der neuen Chronik: "„Aber sie kamen nicht zurück“ – Jüdische Familien in Lehmen an der Mosel". Außerdem soll zukünftig eine Plastik an die jüdischen Familien in Lehmen erinnern. Doch was geschah damals so Bewegendes?

Der Auslöser: Ein Versprechen im Sommer 1942

Auch das Ehepaar Feiner entgeht wie alle anderen Familien jüdischen Glaubens damals nicht dem Rassenwahn der Nationalsozialisten. Am 27. Juli 1942 wird es in einer Nacht- und Nebel-Aktion von den Nationalsozialisten deportiert. Vermutlich noch am selben Abend raffen die Feiners hastig zusammen, was ihnen wichtig ist.

Neben dem Wenigen, was sie mitnehmen dürfen, ist ihnen ihr schönes Tafelservice wertvoll, das in der Familie nur zu besonderen Anlässen auf den Tisch kommt. Sigmund Feiner vertraut es deshalb seinem Freund und Nachbarn Eberhard Marx an, mit der Bitte, es aufzubewahren, bis er und seine Frau wiederkommen.

„Bitte bewahren Sie es für uns auf, bis der Krieg zu Ende ist und wir wiederkommen!“

Das Tafelservice ist alles, was von der Familie bleibt

Es ist das letzte Mal, dass sich die Familien sehen werden. Sigmund Feiner stirbt ein knappes Jahr später am 12. Juni 1943 im Ghetto in Theresienstadt. Seine Frau Thekla wird am 15. Mai 1944 in Auschwitz ermordet. Tochter Johanna, die Freundin der Marx-Töchter, wird von Nationalsozialisten in der Nacht auf ihren 17. Geburtstag, am 14. Juni 1942, in einem völlig überfüllten Viehwaggon ins Vernichtungslager Sobibor geschickt und dort ermordet.

Das Versprechen aus dem Sommer 1942 hält 80 Jahre lang

Eberhard Marx hält sein Versprechen, bewahrt das Geschirr der Nachbarn sorgsam weiter auf. Selbst als er 1942 versetzt wird, nimmt er es mit. Später hofft dioe Familie, dass die Feiners vielleicht doch die Gräueltaten der Nationalsozialisten überlebt haben. Irgendwann aber muss ihnen klar sein, dass wohl niemand den Holocaust überlebt hat. Dennoch passen die Großeltern von Ulrike Marx immer weiter auf das Geschirr auf.

Nach dem Tod von Eberhard Marx 1955 wird das Geschirr in der Familie von Generation zu Generation weitergegeben. Immer wieder versuchen sie, über die Jahre und Jahrzehnte doch noch Verwandte oder Nachfahren der Feiners ausfindig zu machen - erfolglos. Bis das Service 2013 in die Hände von Ulrike Moritz, der Enkelin von Eberhard Marx, kommt und sie einen neuen Versuch startet. Dann führen mehrere glückliche Zufälle plötzlich zu einem Wendepunkt.

"Ich habe nie daran gedacht, das Geschirr wegzuwerfen oder zu verkaufen. Wenn sich nun niemand gefunden hätte, hätten meine Kinder und dann deren Kinder das Versprechen fortgeführt."

Die Einlösung nach fast 80 Jahren

Als auch Ulrich Offerhaus 2021 von dem Tafelgeschirr und der Suche nach den Nachfahren erfährt, kennt er den Namen Feiner, weiß von einem Grabstein auf dem jüdischen Friedhof in Koblenz. Offerhaus ist promivierter Theologe, Judaistik-Experte und pensionierter evanglischer Pfarrer. Er begibt sich damals auf Spurensuche. In akribischer und detektivischer Kleinarbeit findet er mehr über die Feiners heraus.

Mehrere Umwege und Zufälle führen dann zu einer Spur in die USA. Dort macht er schließlich Alyse Lichtenstein, die Ur-Ur-Großnichte von Siegmund Feiner, ausfindig. Dann geht alles ganz schnell.

Am 18.11.2021 kommen die Lichtensteins, die letzten lebenden Verwandten der Feiners, nach Lehmen und nehmen das so lange aufbewahrte Geschirr von Ulrike Moritz in Empfang.

Lehmen

Fast 80 Jahre nach dem Holocaust Frau aus Lehmen gibt Geschirr an jüdische Familie zurück

Fast 80 Jahre lang hat die Familie von Ulrike Moritz aus Lehmen auf das Geschirr aufgepasst, das der ehemaligen jüdischen Nachbarfamilie gehörte. Jetzt konnte sie es an die Erben zurückgeben.

Was sich dann alles an bewegenden Momenten abspielt, ist für den Wissenschaftler Offerhaus Anlass, die Geschichten aller jüdischen Familien, die je in Lehmen gelebt haben, rekonstruieren zu wollen. Auch die Gemeinde will ihre Geschichte aufarbeiten, und so nehmen die Dinge zur neuen Ortschronik und Gedenkarbeit ihren Lauf.

Gedenk-Plastik soll an die Familien erinnern

Ergänzend zur Chronik soll nun eine Gedenk-Plastik am Razejungeplatz aufgestellt werden - dort, wo die Familien Marx und Feiner damals nebeneinander lebten. Künstlerin Petra Müller hat dafür die Form eines Rebstocks gewählt.

Eine Plastik in Form eines Rebstocks repäsentiert jüdische Familien, die im Holocaust von den Nazis ermordet wurden
Eine Plastik in Form eines Rebstocks soll die Lehmener Familien jüdischen Glaubens repräsentieren, die einst in dem Moselort lebten. Er entspringt dem Tafelservice der Familie Feiner, das Anlass für die erweiterte Gedenkarbeit war.

Der Rebstock wurzelt dem Entwurf nach in dem Geschirr der Familie Feiner - denn dieses war der Ausgangspunkt für die jetzige umfassende Aufarbeitung der jüdischen Geschichte in Lehmen. Er soll an alle jüdischen Familien erinnern, die damals in guter Dorfgemeinschaft und Freundschaft in Lehmen zusammenlebten.

Die Freundschaft von damals lebt nun weiter

Das Schönste für alle Beteiligten ist, dass trotz der traurigen Geschichte der Familien Marx und Feiner nun die alte Familien-Freundschaft wieder aufgelebt ist und außerdem neue Freundschaften entstanden sind.

Alyse Lichtenstein, die Ur-Ur-Großnichte von Siegmund Feiner, sagt heute: „Wir sind die Generation der Versöhnung“. Enger könnte die Freundschaft nicht sein: Für Alyse gehören alle Beteiligten nun zu ihrer eigenen Familie. Im Juli 2022 hat sie in den USA geheiratet. Ulrike Moritz und Christoph Stoffel waren mit Familien eingeladen und haben sie besucht. Alle sind sich sicher: "Unsere Freundschaft wird nie wieder abreißen."

Den Menschen Namen und Erinnerung zurückgeben

Ulrich Offerhaus möchte mit seiner Chronik gegen das Vergessen arbeiten. "Nur wenige aus Lehmen stammende Juden haben die Schoah überlebt, und keiner von ihnen kam je nach Lehmen zurück", erzählt er, "vergessen aber dürfen wir diese Schreckenstaten aber nie." Mit seinem Buch möchte er den Menschen Namen und Leben zurückgeben.

"Menschen, auch wenn sie tot sind, Leben in der Erinnerung, und im Hebräischen spielt die Erinnerung eine ganz große Rolle. Das heißt: Das Sakar, das Gedenken."

Nachfahren waren bei Buch-Vorstellung live dabei

Zur Vorstellung der neuen Orts-Chronik und der Gedenkplastik waren deshalb auch die Nachfahren der Familie Feiner live per Video dazugeschaltet. Christoph Stoffel meinte dazu: "Sie leben zwar alle in den USA, aber wir könnten jeden Einzelnen hier bei jedem Dorffest mittendrin dabei haben, und niemand würde angesehen von der Sprache merken, dass es keine waschechten Lehmener sind."

Nachfahren einer jüdischen Familie nehmen 2023 per Videokonferenz an der Vorstellung der neuen Ortschronik in Lehmen an der Mosel teil.
Die Nachfahren der jüdischen Familie Feiner nehmen 2023 per Videokonferenz aus den USA an der Vorstellung der neuen Ortschronik in Lehmen an der Mosel teil.

So hat das Porzellan der Familie Feiner nicht nur den Krieg und die Schreckensherrschaft der Nationalsozialisten überdauert und zu einer Neuschreibung der Lehmener Ortsgeschichte geführt, sondern auch eine über 80 Jahre alte Freundschaft wieder aufleben lassen, neue Freundschaften geschaffen.

Das Versprechen der Familie Marx hat den gegenseitigen Respekt bewahrt, der zwischen den Lehmener Familien und im Dorf damals trotz NS-Gräueltaten herrschte.

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