In der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 zettelten die Nationalsozialisten die sogenannte "Kristallnacht" an: einen tagelangen, angeblich spontanen Gewaltausbruch gegen jüdische Menschen und Geschäfte.
Tausende Juden wurden ermordet oder verloren ihre Existenzgrundlage
Durch dieses akribisch geplante Pogrom im November 1938 verloren Tausende Juden ihre Existenzgrundlage, Synagogen gingen in Flammen auf und Hunderte jüdische Bürger wurden von Schlägerbanden der SA und SS ermordet oder in den Tod getrieben.
Propagandistischer Aufhänger für dieses Verbrechen, das den Beginn des Holocaust markiert, war das Attentat auf einen deutschen Botschaftssekretär in Paris durch den jüdischen Emigranten Herschel Grynszpan. Die Tat eines Einzelnen wurde einer ganzen Kultur angelastet. Einiges spricht dafür, dass die Nationalsozialisten den Tod des Botschaftsangestellten billigend in Kauf genommen, wenn nicht sogar forciert haben.
Das Deutsche Reich nach der Machtergreifung 1933
Ab dem 23. März 1933 herrscht Adolf Hitler aufgrund des sogenannten Ermächtigungsgesetzes mit diktatorischen Vollmachten. Viele Oppositionelle sind in Konzentrationslagern oder Gefängnissen inhaftiert, die Gewerkschaften sind zerschlagen. Zu dieser Zeit leben etwa 500.000 Juden im Deutschen Reich, das entspricht knapp einem Prozent der Bevölkerung.
Schritt für Schritt probieren die Nationalsozialisten nun aus, wie weit sie mit ihrer Diskriminierungs- und Vertreibungspolitik gehen können, ohne den Rückhalt in der Bevölkerung zu verlieren und dem internationalen Ruf des Landes zu schaden. Die Rechte der jüdischen Bevölkerung werden schrittweise immer weiter eingeschränkt:
- Am 1. April 1933 – nur acht Wochen nach der Machtergreifung am 30. Januar 1933 – ruft Reichspropagandaminister Joseph Goebbels zum Boykott jüdischer Geschäfte auf.
- Das Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums wird am 7. April 1933 erlassen. Damit dürfen Juden nicht mehr im Staatsdienst tätig sein, jüdische Lehrer müssen die Schulen verlassen.
- Durch das Schriftleitergesetz, das am 4. Oktober 1933 verabschiedet wird, werden jüdische Journalisten aus ihrem Beruf gedrängt. Denn das Gesetz ist nicht nur ein Instrument zur Gleichschaltung der Presse, sondern es darf auch nur noch als Journalist arbeiten, wer einen "Ariernachweis" vorlegen kann.
- Den vorläufigen Höhepunkt der Diskriminierung bilden im September 1935 die "Nürnberger Rassengesetze", wie die Nationalsozialisten sie nennen: Als Jude gilt demnach, wer zwei nichtarische Großeltern hat. Die Eheschließung zwischen Juden und Nichtjuden wird verboten, ebenso der außereheliche Geschlechtsverkehr zwischen Juden und "Staatsangehörigen deutschen und artverwandten Blutes". Jüdische Beamte verlieren ihre Pensionen. Zwei Monate später werden Juden von der freien Berufswahl ausgeschlossen.
- Ab April 1937 dürfen Juden an deutschen Universitäten keine Doktortitel mehr erwerben, jüdische Lehrer dürfen nun auch keinenPrivatunterrichtmehrerteilen. Jüdische Ärzte verlieren ihre Krankenkassenzulassung.
- Ab dem Sommer 1938 müssen Juden einen zweiten Vornamen annehmen: die Frauen Sarah, die Männer Israel. Jüdische Kinder dürfen keine deutschen Schulen mehr besuchen.
All diese Maßnahmen sollten den Druck auf die jüdische Bevölkerung erhöhen, das Land zu verlassen. Viele Juden tun dies auch, eine große Zahl jüdischer Deutscher kann oder will Deutschland aber nicht verlassen. Etwa 200.000 deutsche Juden leben 1938 noch im Deutschen Reich. Auch die wollen die Nationalsozialisten loswerden.
Herschel Grynszpan und seine Familie
Einer der vielen, die in Deutschland keine Zukunft mehr für sich sehen, ist der polnischstämmige Jude Herschel Grynszpan. Der tiefreligiöse Jude lebt mit seiner Familie in Hannover und wandert 1936 als 15-Jähriger nach Paris aus, weil dort Verwandte leben. Seine Eltern und seine beiden Geschwister bleiben in Deutschland.
Herschel Grynszpans Familie gehört zu einer Gruppe von ungefähr 17.000 Juden in Deutschland, die die Nationalsozialisten wegen ihrer polnischen Herkunft nach Polen abschieben wollen. Der polnische Staat weigert sich jedoch, sie aufzunehmen. In einer Nacht-und Nebel-Aktion werden diese Menschen im Oktober 1938 überall in Deutschland auf Lastwagen verladen und in ein Dorf an der polnisch-deutschen Grenze deportiert, wo sie in Scheunen und Schweineställen eingepfercht werden. Die internationale Presse läuft Sturm gegen diese Aktion.
Herschel Grynszpan erfährt in Paris von der Verschleppung seiner Eltern. Mittlerweile lebt er von Gelegenheitsarbeiten und sein Pass ist abgelaufen – er ist staatenlos und hält sich illegal in Frankreich auf.
Der junge Mann, empört über die immer dreisteren Gewaltakte in Deutschland, fasst den Entschluss zu einer folgenschweren Tat. Denn sie wird den Nationalsozialisten als Vorwand für die Reichspogromnacht dienen.
Grynszpans Attentat auf Botschaftssekretär vom Rath in Paris
Herschel Grynszpan beschließt, ein Zeichen zu setzen gegen die Judenpolitik der Nazis. Am 7. November 1938 geht er zur Deutschen Botschaft in Paris und verlangt jemanden zu sprechen. Nach einer bestimmten Person fragt er nicht. Zwar ist seine Tat politisch motiviert, aber sein Opfer wählt er offenbar willkürlich aus.
Am Morgen des 7. November 1938 schießt er Ernst Eduard vom Rath, in dessen Büro er vorgelassen worden war, fünf Mal in den Bauch. Danach lässt er sich widerstandslos festnehmen. Die kleinkalibrige Waffe hatte sich Grynszpan auf dem Pariser Schwarzmarkt besorgt. Der Diplomat und Botschaftssekretär vom Rath wird schwer verletzt, aber lebend in ein Krankenhaus gebracht und zunächst von französischen Ärzten behandelt. Deren erster Befund lautet, dass sein Gesamtzustand labil ist – allerdings nicht nur wegen der Schüsse, sondern auch wegen der schweren Geschlechtskrankheit vom Raths. Aber Lebensgefahr scheint zu diesem Zeitpunkt nicht zu bestehen.
Adolf Hitler schickt seinen Leibarzt Karl Brandt nach Paris. Der ist Jahre später als Generalleutnant der Waffen-SS und Generalkommissar für das Sanitäts- und Gesundheitswesen für die medizinischen Menschenversuche und das Euthanasie-Programm der Nazis verantwortlich.
Karl Brandt untersucht Ernst Eduard vom Rath. Nach dem Besuch von Hitlers Leibarzt verschlechtert sich vom Raths Gesundheitszustand. Er stirbt am Nachmittag des 9. November 1938.
Goebbels-Rede löst Reichspogromnacht aus
Im Münchener Rathaus haben sich an diesem Tag aus Anlass des 9. Novembers 1923 – Hitlers erstem und gescheitertem Versuch der Machtergreifung in der Weimarer Republik – Gauleiter, alte Nazi-Kämpfer und die Spitze des NS-Staates versammelt. In die Veranstaltung platzt die Nachricht vom Tode Ernst Eduard vom Raths.
Joseph Goebbels, Reichsminister für Volksaufklärung und Propaganda, hält eine Rede, in der er "die Juden" verantwortlich macht und sich bewusst unklar ausdrückt. Verstanden wird sie, wie beabsichtigt, als Aufforderung zum Handeln. So heißt es in einer telegrafischen Anweisung der "SA Nordsee" an untergeordnete Dienststellen in jener Nacht:
Die SA ist für diese Nacht und die folgenden Tage bestens gerüstet. Ihre schwerbewaffneten Trupps stürmen die großen jüdischen Kaufhäuser, brechen mit Eisenstangen die Türen auf und werfen Brandsätze in die Geschäfte, oft begleitet von einem johlenden Pöbel. Jüdische Wohnungen werden aufgebrochen, die Menschen auf die Straße gezerrt, verhöhnt, bespuckt und verprügelt. Ihre Möbel werden aus dem Fenster geworfen, ihre Behausungen verwüstet. Niemand aus der nichtjüdischen deutschen Bevölkerung stellt sich diesem organisierten Irrsinn nennenswert entgegen – auch nicht die Feuerwehrleute und Polizisten.
Die Reichspogromnacht war alles andere als ein spontanes Aufbrechen des sogenannten Volkszorns. Sie war von langer Hand vorbereitet.
400 Juden werden ermordet, 7.000 jüdische Geschäfte zerstört, fast alle Synagogen brennen
Die Gewaltorgie dauert nicht nur eine Nacht: In Berlin wütet der Pöbel zwei Tage, ebenso in Heilbronn und vielen ländlichen Gebieten. Etwa 400 Juden werden im Verlauf der Pogrome ermordet oder in den Tod getrieben, Tausende Menschen werden zusammengeschlagen, drangsaliert und wirtschaftlich ruiniert. 29 jüdische Warenhäuser und mehr als 7.000 jüdische Geschäfte werden dem Erdboden gleichgemacht. Fast alle Synagogen in Deutschland und Österreich brennen nieder und mehr als 30.000 Juden werden verhaftet – nur weil sie Juden sind.
Die Konzentrationslager im Deutschen Reich waren bereits vor dem 9. November 1938 mit Regimegegnern überfüllt. Das Leben dort wird vollends unerträglich, als nun Zehntausende jüdische Bürger hinzukommen.
Als Gipfel des Zynismus erlegen die Nationalsozialisten den deutschen Juden pauschal eine Geldstrafe von einer Milliarde Reichsmark auf. Generalfeldmarschall Hermann Göring unterzeichnet am 12. November 1938 eine entsprechende Verordnung.
Was wurde aus Herschel Grynszpan?
Das Schicksal Herschel Grynszpans ist bis heute nicht vollständig geklärt. Viele Monate verbrachte er zunächst in französischer Untersuchungshaft.
Nach dem Überfall auf Frankreich im Mai 1940 wurde er von den Nationalsozialisten in ein Konzentrationslager verschleppt. Geplant war, einen Schauprozess gegen ihn zu inszenieren, zu dem auch ausgesuchte ausländische Presseorgane zugelassen sein sollten. So sollte die Behauptung einer umfassenden jüdischen Verschwörung gegen das deutsche Volk weiter verbreitet werden. Zu diesem Prozess kam es jedoch nie, weil Herschel Grynszpan in den Verhören ausgesagt hatte, Ernst Eduard vom Rath und er wären ein Liebespaar gewesen. Eine verzweifelte Schutzbehauptung, denn Grynszpan wusste: Die nationalsozialistischen Saubermänner würden niemals bekannt werden lassen, dass ausgerechnet Ernst Eduard vom Rath homosexuell war.
Im September 1942 verliert sich die Spur des jüdischen Attentäters Herschel Grynszpan.
40 Jahre bis zum Gedenken
Nach dem Ende der Nazi-Diktatur dauerte es Jahrzehnte, bis sich 1978 Helmut Schmidt als erster Kanzler öffentlich zu den Novemberpogromen äußerte. Und 1988 führte das Gedenken zum Eklat im Bundestag.
SWR 2018
Originalaufnahmen im SWR2 Archivradio
9.11.1938 Hitler in der Reichspogromnacht
9.11.1938 | Am 9. November 1938 um Mitternacht vereidigt Adolf Hitler in München den neuen Jahrgang der SS-Verfügungstruppen und der Totenkopfbände. Seine Rede erinnert daran, dass es kein Zufall ist, dass die Pogrome auf den gleichen Kalendertag fallen wie die Ausrufung der Republik 20 Jahre zuvor. Und wie sehr Hitler im 9. November seinen persönlichen Kampftag sieht. Hitler erinnert an den Sturz der Monarchie und die Kapitulation 1918, die er als Schande und Volksverrat bezeichnet. Und er erinnert an seinen gescheiterten Putsch in München, den er damals auch schon bewusst am 9. November 1923 plante. Genau im Gedenken an jenen Putsch hatte sich die NSDAP-Führung ja an jenem Abend auch auf dem Odeonsplatz getroffen. Schon vor Hitler hatte Goebbels in einer Hetzrede erklärt, dass sich die Partei antijüdischen Aktionen nicht in den Weg stellen werde. Im Anschluss ergingen die Anweisungen an die SA und die Gaupropagandaleitungen zur Zerstörung der Synagogen und jüdischer Geschäfte. Als gegen Mitternacht Hitler spricht und die neuen SS-Rekruten vereidigt, brennen bereits die ersten Häuser. Angekündigt wird Hitler vom Reichsführer der SS Heinrich Himmler. Auf das, was in dieser Nacht noch geschehen würde, geht Hitler nicht ein.
10.11.1938 Reportage aus der zerstörten Synagoge in Wien nach der Reichspogromnacht
10.11.1938 | Von den Pogromen in der Nacht zum 10. November 1938 und auch dem Tag danach existieren kaum Rundfunkaufnahmen. Falls es sie gab, sind sie nicht erhalten oder wurden zerstört. Eine Ausnahme ist Wien. In dieser Reportage vom 10. November 1938 berichtet Eldon Walli, ein gebürtiger US-Amerikaner, für den nationalsozialistischen "Reichssender Wien" vor Ort von der Zerstörung des Leopoldstädter Tempels.
Bemerkenswert ist der Tonfall. Am Anfang könnte fast eine gewisse Anteilnahme heraushören, doch dann wird er immer zynischer, und es wird deutlich, wie der Reporter mit der Zerstörung der Synagoge sympathisiert. Ein Feuerwehrmann erklärt, der Brand sei nicht zu löschen gewesen, so hätten sich die Feuerwehrleute nur noch die Hände wärmen können.
9.11.1978 Helmut Schmidt: Rede zum 40. Jahrestag der Reichspogromnacht
9.11.1978 | Bis 1978 war der 9. November ein Tag wie jeder andere. Es gab kein Gedenken, keine öffentliche Erinnerung. Erst vierzig Jahre nach der Reichspogromnacht – die damals noch nicht so genannt wurde – ändert sich das. Helmut Schmidt besucht an jenem Tag die Kölner Synagoge und hält eine Rede. Die erste Gedenkrede eines Bundeskanzlers zu den Ereignissen von 1938. Das damals noch gängige Wort Kristallnacht nimmt Schmidt bewusst nicht in den Mund.
10.11.1988 Eklat durch Rede Philipp Jenningers anlässlich des Jahrestages der Reichspogromnacht
10.11.1988 | Die Rede von Bundestagspräsident Philipp Jenninger in Erinnerung an die Novemberpogrome 1938 stand von Anfang an unter keinem guten Vorzeichen. Im Vorfeld gab es ein ziemliches Gerangel unter den Bundestagsfraktionen, wie groß die Gedenkstunde ausfallen sollte, wer reden darf und wer nicht. Nicht reden durfte Heinz Galinski, der Vorsitzende des Zentralrats der Juden in Deutschland. Das hatte die Unions-Fraktion blockiert. So redet allein Philipp Jenninger – und sein Versuch, die Judenverfolgung verstehen und erklären zu wollen, wird dann als so unangemessen empfunden, dass er tags drauf zurücktreten muss. Hier die komplette Rede.
10.11.1988 Reaktionen auf Jenningers Skandalrede zur Reichspogromnacht
10.11.1988 | Unmittelbar nach Philipp Jenningers Rede zu den Novemberpogromen 1988 zeigten sich zahlreiche Abgeordnete bestürzt. Wir hören unter anderem den damaligen SPD-Fraktionsvorsitzenden Hans-Jochen Vogel sowie Otto Schily, damals Abgeordneter der Grünen.
Parlamentsdebatten 1931 bis 1933 Der Reichstag vor Hitler
Die Weimarer Republik war die erste parlamentarische Demokratie in Deutschland. In bisher unveröffentlichten Tonaufnahmen der Parlamentsdebatten wird ihr Scheitern erfahrbar.