Die Gewissensfreiheit von Bundestagsabgeordneten wiegt schwerer als die Loyalität zu einer Partei, meint Martin Rupps.
Der baden-württembergische Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Grüne) klang hörbar gallig. „Wenn einer so die Partei wechselt“, sagte er in der Landespressekonferenz, „aus heiterem Himmel, so jemanden würde ich mal ein bisschen mit spitzen Fingern anfassen.“ Gemeint war die grüne Bundestagsabgeordnete Melis Sekmen aus Mannheim, die angekündigt hatte, von der Grünen- in die Unionsfraktion zu wechseln. Bisherige Parteifreunde forderten Melis Sekmen zur Rückgabe ihres Mandats auf, damit eine Grüne bzw. ein Grüner nachrücken kann.
Vordergründig macht die Entscheidung der 30-jährigen Politikerin mit türkischen Wurzeln den Eindruck eines „Rette sich, wer kann!“. Bei der kommenden Bundestagswahl wird mutmaßlich die Union Stimmen hinzugewinnen, die Grünen dagegen verlieren. Melis Sekmen zog über die Landesliste in den Deutschen Bundestag ein. Dessen könnte sie sich in anderthalb Jahren nicht sicher sein. Nicht nur bei der SPD, auch bei den Grünen herrscht Existenzangst unter Volksvertreterinnen und ihren Mitarbeitenden.
Melis Sekmen ist mit Hilfe einer Partei in den Bundestag gekommen und dort nur ihrem Gewissen verpflichtet. Heißt: Sie kann diese Partei aus freien Stücken verlassen. Darüber schweigen jetzt ein paar Leute hinweg, die das Mandat für die Grünen reklamieren. Ich sehe darin ein weiteres Beispiel dafür, dass die einstigen Basisdemokraten machtpolitisch genauso ticken wie etwa die Linke, die liebend gern Sarah Wagenknecht und ihren Tross rausgekickt hätte.
Kretschmann: „Mit spitzen Fingern anfassen“
Melis Sekmen will Politik machen und nicht grüne Parteigeschichte schreiben mit einem Mandatsverzicht – für wen auch? Der Unionsfraktionsvorsitzende im Bundestag, Friedrich Merz, mag ihr Unterstützung für einen vorderen Listenplatz zugesagt haben. Sicher ist ihr Wiedereinzug in das Parlament trotzdem nicht. Noch etwas anderes nimmt Melis Sekmen in Kauf: In der Union herrscht keine vergleichbare Wir-haben-uns-alle-lieb-Kultur wie bei den Grünen. Wenn die Neue nicht durch Leistung auffällt, wird das nix mit dem zweiten politischen Frühling.
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