Die Umfrage-Erfolge der AfD beschäftigen auch Verfassungsrechtler. Im Zentrum ihrer Überlegungen steht die Frage: Wie kann die Politik demokratische Institutionen stärken?
Geheimtreffen mit Rechtsextremisten in Potsdam, rechtsextreme Mitarbeiter von Bundestagsabgeordneten: Bei der AfD jagt ein Aufreger den nächsten, doch den Kern ihrer Wählerschaft scheint das nicht abzuschrecken. In Baden-Württemberg lag die AfD zuletzt bei 18 Prozent; in Thüringen, Sachsen und Brandenburg, wo dieses Jahr noch gewählt wird, liegt sie sogar konstant deutlich bei über 30 Prozent.
An das aggressive Auftreten der AfD im Bundestag und in 14 der 16 Landesparlamente haben sich viele mittlerweile gewöhnt. Doch angesichts der hohen Umfragewerte werden auch andere Szenarien immer wahrscheinlicher: Szenarien, in denen die AfD nicht mehr nur indirekt durch ihren Einfluss auf politische Debatten, sondern auch ganz direkt Macht ausübt - auch in Baden-Württemberg. Für viele dieser Szenarien müsste sie noch nicht einmal an einer Regierungskoalition beteiligt sein.
Verfassungsrechtler sind alarmiert und drängen darauf, demokratische Institutionen zu stärken - bevor die AfD die Macht erhält, sie zu schwächen. Was sind mögliche Einfallstore für Extremisten bezüglich der Verfassungsorgane von Baden-Württemberg und dem Bund?
- Landtag: Minderheitenrechte im Landesparlament
- Weisungsrecht der Justizminister: Kritik an deutscher Regelung
- Bundesverfassungsgericht: Blockade bei der Richterwahl möglich
Landtag: Minderheitenrechte im Landesparlament
Derzeit würde auch in Baden-Württemberg keine andere Partei mit der AfD koalieren, und von einer eigenen Mehrheit ist die AfD weit entfernt. Allerdings könnte auch eine entsprechend große Minderheit die Abläufe bei verschiedenen Verfassungsorganen lähmen.
Beispiel: der Verfassungsgerichtshof Baden-Württemberg - er wacht darüber, ob die Gesetze im Einklang mit der Landesverfassung sind. Hat mehr als ein Viertel der Landtagsabgeordneten daran Zweifel, kann sie den Verfassungsgerichtshof anrufen.
U-Ausschuss beantragen im Alleingang
Ein weiteres Beispiel: die Einrichtung eines Untersuchungsausschusses. Auch dafür braucht es die Stimmen von mehr als einem Viertel der Landtagsabgeordneten. Sollte die AfD bei einer Landtagswahl in Zukunft also mehr als 25 Prozent der Stimmen holen, könnte sie im Alleingang einen Untersuchungsausschuss beantragen - ohne die Stimmen von Abgeordneten aus anderen Fraktionen.
Ein Untersuchungsausschuss gilt als "das schärfste Schwert des Parlaments" und insbesondere der Opposition. Er soll zur Aufklärung eines Sachverhalts beitragen und kann Regierende ordentlich ins Schwitzen bringen: siehe Kanzler Olaf Scholz (SPD) beim U-Ausschuss des Bundestags zur Cum-Ex-Steuergeldaffäre oder BW-Innenminister Thomas Strobl (CDU) beim U-Ausschuss des Landtags zur Polizeiaffäre.
Bei einem U-Ausschuss sind Gerichte und Verwaltungsbehörden zur "Rechts- und Amtshilfe" verpflichtet. Das macht viel Arbeit. Deshalb sollte ein solcher Ausschuss nicht missbräuchlich eingesetzt werden.
Landtagspräsidentin Aras spricht von "Balanceakt“
Vom SWR auf die genannten Regelungen angesprochen, betont Landtagspräsidentin Muhterem Aras (Grüne) die Bedeutung auch solcher Minderheitenrechte für die parlamentarische Demokratie: "Das macht eine Demokratie auch stark", so Aras. "Das zeichnet sie auch aus, wie sie mit solchen Minderheitenrechten umgeht." Aras spricht von einem "Balanceakt". Grundsätzlich sei es aber wichtig, "dass wir nicht über das Ziel hinausschießen, dass wir eben diese Minderheitenrechte bewahren".
In der Vergangenheit hatte die AfD bereits einmal versucht, auf Basis des Minderheitenrechts einen Untersuchungsausschuss zu beantragen - und das, obwohl sie bislang noch nie mehr als ein Viertel der Landtagsabgeordneten in Baden-Württemberg gestellt hat. Stattdessen machte sie sich eine Lücke in der Gesetzgebung zunutze. "Das Minderheitenrecht ist dadurch ad absurdum geführt worden“, so Aras. Deshalb habe man an dieser Stelle nachgebessert.
Aras bezieht sich auf einen Fall aus dem Jahr 2016. Damals beantragte die AfD einen Untersuchungsausschuss zum Thema "Linksextremismus". Die AfD war erst wenige Monate zuvor erstmals in den Landtag eingezogen und hatte sich kurz darauf wegen der Antisemitismus-Kontroverse um den Abgeordneten Wolfgang Gedeon in zwei Fraktionen aufgespaltet.
Damals galt wie heute die Regel, dass zwei Fraktionen gemeinsam einen Untersuchungsausschuss beantragen können. "Das ist ja an sich eine gute Sache", sagt Aras. Aber: "Der Geist des Gesetzes war, dass die Mitglieder dieser zwei Fraktionen natürlich verschiedenen Parteien angehören müssen." Das stand aber nicht explizit im Gesetz - und die zwischenzeitlich auf zwei Fraktionen aufgespaltene AfD versuchte, sich das zunutze zu machen. Mittlerweile wurde die Formulierung, dass zwei Fraktionen, die einen Untersuchungsausschuss beantragen, auch zwei verschiedenen Parteien angehören müssen, in das Gesetz aufgenommen. "Wir haben die Lücke jetzt geschlossen", sagt Aras.
Weisungsrecht der Justizminister: Kritik an deutscher Regelung
In Deutschland haben Justizminister und -ministerinnen gegenüber den Staatsanwaltschaften ein "Weisungsrechts im Einzelfall". Das heißt: Ein Justizminister kann eine Staatsanwaltschaft anweisen, ein Ermittlungsverfahren zu führen - oder es zu unterlassen.
An dieser Regelung gibt es schon lange Kritik - auch vom Europäischen Gerichtshof. Und der Deutsche Richterbund ist der Auffassung: "Allein der böse Anschein, dass Minister Ermittlungen aus dem Hintergrund in die eine oder andere Richtung lenken könnten und Staatsanwälte am Gängelband der Politik laufen, erschüttert das Vertrauen in eine objektive Strafverfolgung.“
Dass ein Justizminister tatsächlich von dem Weisungsrecht Gebrauch macht, ist äußerst selten. In Baden-Württemberg geschah dies zuletzt 2005. Damals gab es eine Weisung des Justizministers, in einem Ermittlungsverfahren nach der Entdeckung der sterblichen Überreste von Zwangsarbeitern in der Außenstelle Echterdingen des Konzentrationslagers Natzweiler/Elsass auf rechtsmedizinische Untersuchungen zu verzichten. Das Bundesjustizministerium teilte dem SWR auf Anfrage mit, es habe "mindestens seit dem Jahr 2000 in keinem Ermittlungsverfahren von seinem Weisungsrecht Gebrauch gemacht".
Generalstaatsanwalt: "Einfallstor für politische Einflussnahme"
Doch was wäre, wenn die AfD Teil einer Regierung würde? Achim Brauneisen, Generalstaatsanwalt in Württemberg, sagt dem SWR mit Blick auf das Weisungsrecht: "Wenn sich die Lage ändert, ist das ein Einfallstor für politische Einflussnahme."
Die Befürchtung: Ein AfD-Justizminister könnte dann Ermittlungen gegen Gesinnungsgenossen unterbinden, oder Ermittlungen gegen andere Akteure anweisen. Brauneisen fordert daher, das Weisungsrecht der Justizminister "einzuschränken und abzuschaffen".
Für eine solche Neuregelung wäre der Bund zuständig. Tatsächlich hat die Ampelregierung in ihrem Koalitionsvertrag 2021 vereinbart, das Weisungsrecht "entsprechend den Anforderungen des Europäischen Gerichtshofs" anzupassen. Dem SWR teilt das Bundesjustizministerium dazu lediglich mit: "Die Prüfungen zum weiteren Vorgehen in dieser Sache dauern noch an."
Bundesverfassungsgericht: Blockade bei der Richterwahl möglich
Das Bundesverfassungsgericht besteht aus 16 Richterinnen und Richtern. Die eine Hälfte wählt der Bundestag, die andere der Bundesrat, jeweils mit Zweidrittelmehrheit. Die Amtszeit beträgt zwölf Jahre. Eine Wiederwahl ist ausgeschlossen. So regelt es das Gesetz über das Bundesverfassungsgericht.
Dass für die Wahl der Richter eine Zweidrittelmehrheit gebraucht wird, könnte allerdings zum Problem werden - denn das bedeutet im Umkehrschluss, dass eine Minderheit von etwas mehr als einem Drittel die Wahl der Richter blockieren kann. "Deshalb sollte man da vor allem im Bundestag von einer Zweidrittelmehrheit im Plenum runtergehen", sagt Ferdinand Kirchhof, ehemaliger Vize-Präsident des Bundesverfassungsgerichts, dem SWR. Problematisch fände Kirchhof eine solche Gesetzesänderung nicht, denn: "Der Bundestag entscheidet aufgrund des Vorschlags des Wahlausschusses, und da ist sowieso eine Zweidrittelmehrheit nötig."
Bundesjustizminister will Grundgesetzänderung
Doch es gibt noch ein anderes, ganz grundsätzliches Problem mit dem Gesetz über das Bundesverfassungsgericht: Es hat keinen Verfassungsrang. Es kann also mit einfacher Mehrheit vom Bundestag geändert werden. Bundesjustizminister Marco Buschmann (FDP) möchte das ändern und die Regelungen zum Bundesverfassungsgericht ins Grundgesetz schreiben lassen. Denn dann bräuchte es für Änderungen in dem Gesetz eine Zweidrittelmehrheit - eine viel höhere Hürde.
Eine Zweidrittelmehrheit bräuchte allerdings auch Bundesjustizminister Buschmann für seinen Vorstoß. Die Stimmen der Ampelkoalition reichen dafür nicht aus: Es braucht zusätzlich die Fraktion von CDU und CSU. Die war im Februar aus den Verhandlungen über besseren Schutz des Verfassungsgerichts ausgestiegen. Zuletzt hieß es, die Union sei zu neuen Gesprächen bereit.
Ex-Verfassungsrichter Kirchhof unterstützt den Vorstoß der Ampelkoalition: "Es ist möglich, dass der Rechtsstaat entsprechend umgebaut wird." Er hält es für dringend geboten, rechtzeitig zu prüfen, wie man Politik und Gerichte stabiler machen kann gegen Demokratiefeinde.
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