Bei einem Missbrauchsprozess in Tübingen geht es auch um die Frage: Bestand während der sexuellen Taten ein Behandlungsverhältnis zwischen Therapeut und Patientin. Aussage gegen Aussage.
Ein möglicher Fall von Missbrauch zwischen einem Therapeuten und einer Patienten wird derzeit vor dem Amtsgericht Tübingen verhandelt. Die Staatsanwaltschaft betonte beim Prozessauftakt am Dienstag, sie gehe davon aus, dass das psychotherapeutische Behandlungsverhältnis noch bestand, während es zu sexuellen Handlungen zwischen Arzt und Patientin an der Uniklinik Tübingen kam. Deshalb wirft sie dem Arzt Vergewaltigung in einem Fall und sexuellen Missbrauch in 52 Fällen vor. Es sei zu sexuellen Handlungen zwischen 2020 und 2021 beim Therapeuten zuhause sowie in seinem Arbeitszimmer der Klinik gekommen. Damit habe er laut Staatsanwaltschaft die Abhängigkeit der Frau zu ihm ausgenutzt.
Verteidigung: "Sex war einvernehmlich"
Die Verteidigung hingegen bestreitet diese Vorwürfe. Die Anwältin des 61-jährigen Arztes erklärte, es gab zwar eine Liebesbeziehung, doch um Missbrauch habe es sich nicht gehandelt. Die Behandlung in der Klinik sei beendet gewesen und daraus habe sich dieses private Verhältnis entwickelt. Der Sex sei durchweg einvernehmlich gewesen, so die Anwältin des Beschuldigten.
Betroffene sagt drei Stunden vor Amtsgericht Tübingen aus
Erste Zeugin war die Betroffene. Die 35-Jährige wurde etwa drei Stunden befragt. Beschämt, weinend und verängstigt schilderte sie ihre Sicht der Dinge. Der Beschuldigte hob dabei kaum den Kopf von seinen Aufschrieben. Bereits seit 2014 war die Betroffene regelmäßig an der Uniklinik Tübingen. Sie leidet an einer komplexen Persönlichkeitsstörung, ist als Kind von ihrem Vater schwer sexuell missbraucht worden. Auch 2020 war sie stationär in der Psychiatrie. Im Anschluss bot ihr der Angeklagte an, sie im Rahmen seiner Weiterbildung zum Psychotherapeuten zu behandeln.
Von Therapie-Gesprächen zum Sex
Nach ein paar Monaten Therapie-Sitzungen seien die beiden öfter lange spazieren gegangen, so die 35-Jährige. Sie vertraute sich dem Mann an und phantasierte, beim Spazieren seine Hand zu halten, erzählte sie vor Gericht. Irgendwann soll er sie zu sich nach Hause eingeladen und ihr dort versprochen haben, dass er ihr nach der erfolgreichen Therapie hilft, das Sorgerecht für ihre Kinder zurückzuholen. Dieses Versprechen soll die Betroffene fortan motiviert haben, bei allen sexuellen Handlungen mitzumachen.
Beim ersten Sex habe sie ihrem Arzt signalisiert, dass sie das nicht möchte, betonte sie zitternd vor dem Tübinger Gericht. Die folgenden Male habe sie es in Kauf genommen, um ihn als Therapeuten nicht zu verlieren. Aus ihrer Kindheit habe sie ja schon gewusst, "Männer wollen halt Sex". Als sie schwanger wurde, überredete er sie zur Abtreibung und beendete das Ganze.
Schwere Vorwürfe gegen Ärztlichen Direktor der Psychiatrie
Im Verlauf des Prozesses wurden mehrere Zeugen gehört, darunter Oberärztin Rena Schaletzky und Ärztlicher Direktor der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie Andreas Fallgatter. Als er von der Situation erfahren habe, sei er entsetzt gewesen. Es erschüttere ihn zutiefst, dass sowas in seiner Klinik passierte, ohne dass irgendwer davon mitbekommen habe, so Fallgatter. In einem Gespräch mit der Betroffenen habe er gesagt, dass sie nicht weiter an der Klinik behandelt werden könne, wenn sie gleichzeitig gegen dieselbe klage.
Ob ein eigenes Strafverfahren auf Andreas Fallgatter wegen seines Verhaltens zukommen könnte, wird die Staatsanwaltschaft prüfen. Klar ist: Obwohl dem beschuldigten Arzt von mehreren Personen empfohlen wurde, die Betroffene sei ein zu komplizierter Fall für seine Weiterbildung, hat er sie behandelt. Dokumentiert hat er die ambulanten Sitzungen mit ihr nicht. Das sei zwar Oberärztin Schaletzky aufgefallen, sie habe es auch an den Vorgesetzten des Beschuldigten weitergegeben. Der Vorgesetzte wisse davon allerdings nichts mehr, so Schaletzky.
Missbrauch in 52 Fällen und Vergewaltigung Amtsgericht Tübingen: Psychotherapeut soll Patientin sexuell missbraucht haben
Ein Psychotherapeut der Uniklinik Tübingen soll seine Patientin einmal vergewaltigt und 52 Mal sexuell missbraucht haben. Am Dienstag wurde der Fall vor dem Gericht verhandelt.
Ethikverein enttäuscht von Verhalten der Uniklinik Tübingen
Der 61-jährige Arzt ist laut Direktor Fallgatter versetzt worden. Der Beschuldigte forscht nun zu Demenz. Seine Weiterbildung sei beendet, er habe keinen Patientenkontakt mehr und bekomme weniger Gehalt. Der Ethikverein, der pro Jahr in etwa 100 Fällen von sexuellem Missbrauch in psychotherapeutischen Behandlungsverhältnissen in Deutschland berät, bezieht dazu Stellung. "An anderen Kliniken werden Beschuldigte bei so schweren Vorwürfen entweder fristlos entlassen oder fristgerecht gekündigt und sofort freigestellt", so die Vorsitzende Andrea Schleu.
Oberärztin: Betroffene habe schon mal falsch ausgesagt
Die Verteidigerin des Angeklagten befragte die Betroffene nach einer Aussage von ihr vor einigen Jahren, die sich später als falsch herausstellte. Die 35-Jährige habe nämlich schon mal vor der Polizei einen damaligen Therapeuten der Vergewaltigung beschuldigt. Im Prozess darauf angesprochen, erläuterte sie, dass sie sich damals zu sehr schämte und deshalb diese Falschaussage tätigte. Oberärztin Schaletzky, die die Betroffene fast zehn Jahre kennt, erzählte ebenfalls davon, dass diese immer wieder nicht die Wahrheit gesagt hatte.
Am nächsten Dienstag, 16.4, wird der Fall vor dem Amtsgericht Tübingen weiter verhandelt. Da könnte es auch zum Urteil kommen.
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