Vor wenigen Wochen wurde ein Polizist in Mannheim Opfer einer tödlichen Messerattacke. Was hat das mit den Polizeibeamten gemacht? Wie gehen sie damit jetzt um? Ein Polizist erzählt.
Es ist der 7. Juni 2024, eine Woche nach dem Messerangriff in Mannheim, bei dem der Polizist Rouven Laur tödlich verletzt wurde. Am Marktplatz in der Innenstadt findet eine Schweigeminute statt. Viele Polizistinnen und Polizisten sind vor Ort, um sich von ihrem verstorbenen Kollegen zu verabschieden. Auch Polizeihauptkommissar Martin Jost ist da. Er steht vor dem Meer von Blumen und Kerzen, die am Gedenkort am Brunnen auf dem Marktplatz niedergelegt wurden und weint. Auch wenn er Rouven Laur nicht gut kannte, macht ihm sein Tod sehr zu schaffen. Jost ist mit diesem Gefühl nicht alleine. Vielen Beamtinnen und Beamten geht der Vorfall in Mannheim auch Wochen danach immer noch sehr nahe. Wie ist da überhaupt an Arbeit zu denken?
Martin Jost (54), geboren in Lampertheim (Kreis Bergstraße), ist in Mannheim aufgewachsen und seit 33 Jahren bei der Polizei. Der SWR hat sich mit ihm getroffen, um ausführlich über den Tag des Messerangriffs und die Zeit danach zu sprechen.
In seiner beruflichen Laufbahn musste Jost bereits mit vielen einschneidenden Erlebnisse zurechtkommen - von gefährlichen Messerstechereien bis zu Mordfällen. Aktuell ist Martin Jost Polizeihauptkommissar im Ermittlungsdienst in der sogenannten H4-Wache in der Mannheimer Innenstadt. Sie ist benannt nach dem gleichnamigen Innenstadt-Quadrat. Beweise sichern, Personen überprüfen und Verdächtige überwachen - all das gehört zu seiner Arbeitsroutine. So war das auch am 31. Mai 2024.
So hat Polizist Martin Jost den Messerangriff in Mannheim erlebt
Freitag, der 31. Mai, ist ein Brückentag. Manche Kolleginnen und Kollegen bei der Polizei haben sich für den Tag freigenommen. Martin Jost nicht. Er sitzt an jenem Tag im Büro auf der Wache und unterstützt bei der Einsatzbetreuung. Es muss Protokoll geschrieben werden, ein Kollege hört den Funk ab. Um 11:34 Uhr dann der Funkspruch einer Kollegin: Man brauche einen Rettungswagen am Marktplatz, ein Kollege wurde schwer verletzt. An der aufgewühlten Stimme der Polizistin spüren alle im Büro, dass es dringend ist. Wie schlimm es aber wirklich ist, ahnt zu diesem Zeitpunkt noch niemand.
Martin Jost will unterstützen und fährt sofort zum Marktplatz. Vor Ort erlebt er eine unübersichtliche Situation: Ein zerstörter Infostand der islamkritischen Bürgerbewegung Pax Europa (BPE), mehrere Verletzte, dazu Passanten, die mit ihren Handys versuchen, das Geschehen zu filmen. Als Jost zum schwer verletzten Rouven Laur kommt, wird ihm schnell bewusst, dass es schlimm um den Kollegen steht.
Martin Jost: "An normales Arbeiten war nicht zu denken."
Martin Jost fühlt sich wie in einem Film und funktioniert nur noch. Er sagt, er habe am Tag des Messerangriffs einfach "alles abgespult", was er gelernt hat. Erst am Abend, als ihn seine Tochter anruft und fragt, ob es ihm gut geht, fängt er an zu realisieren, was an diesem Tag eigentlich passiert ist. Ihm und seinen Kolleginnen und Kollegen geht es am Wochenende direkt danach sehr schlecht. Die Ungewissheit mit Blick auf den kritischen Zustand Rouven Laurs nagt: "Schafft er es?" Am Sonntag dann die Antwort. Die Mannheimer Polizei befindet sich in Schockstarre.
Die Tage nach dem ersten Juni-Wochenende seien für die Polizisten besonders schlimm gewesen, erzählt Jost. Vor allem die Videoaufnahmen von dem Vorfall, die hundertfach in den sozialen Netzwerken kursieren, machen den Beamtinnen und Beamten zu schaffen. Immer wieder müssen sie dort sehen, wie ihr Kollege heimtückisch erstochen wird. Auch wenn die Arbeit weiter gehen muss: Die Stimmung bei allen ist gedrückt. Vielen kommt der Fall von 1998 in den Sinn, als der Polizeibeamte Markus Paul in einem Zoogeschäft in Mannheim-Sandhofen von einem jugendlichen Einbrecher erstochen wurde. Daran muss auch Martin Jost denken.
Nach dem Messerangriff: Manche Polizisten sind seitdem krankgeschrieben
Besonders in den ersten Tagen nach dem Messerangriff auf dem Mannheimer Marktplatz versuchen viele Kolleginnen und Kollegen so oft es geht, sich zusammenzusetzen, um über das Erlebte zu reden. Ein psychologisches Betreuungsteam ist für alle Polizistinnen und Polizisten vor Ort. Einige brauchen Trost, andere stürzen sich in die Arbeit. Manche sind bis heute krankgeschrieben. Auch Martin Jost hat viele schlaflose Nächte hinter sich. Für ihn gibt es nur ein Ventil: Sport. Er fährt stundenlang Fahrrad, geht schwimmen oder laufen. Nur so schafft er es, wenigstens für kurze Zeit seinen Kopf auszuschalten. Trotzdem hat auch er bis heute den Vorfall nicht abgeschlossen.
Polizei-Alltag nach der Tat auf dem Marktplatz: "Wir werden immer noch angegriffen"
Nach der Messerattacke bekommt die Mannheimer Polizei viel Zuspruch von Politikerinnen und Politikern, Angehörigen und Bekannten. Während der Schweigeminute auf dem Marktplatz, eine Woche nach der Tat, applaudieren der Polizei tausende Mannheimerinnen und Mannheimer. Doch schon am nächsten Tag hält die Realität wieder Einzug, als es laut Polizei in Mannheim erneut einen körperlicher Angriff auf Beamte gibt. "Für den Moment" habe der Applaus gut getan - was aber Beschimpfungen und Angriffe auf Polizistinnen und Polizisten generell angehe, habe sich nichts verändert, sagt Jost.
Tausende Menschen nahmen teil Trauerfeier für getöteten Polizisten: Bewegender Abschied in Mannheim
In Gedenken an den nach einem Einsatz auf dem Mannheimer Marktplatz gestorbenen Polizisten hat es am Freitag eine Trauerfeier gegeben. Tausende verfolgten die Veranstaltung.
Wäre Angriff auf Rouven Laur zu verhindern gewesen?
Für Martin Jost ist klar: Er hätte am 31. Mai auf dem Mannheimer Marktplatz genauso gehandelt wie Rouven Laur. "Es gibt Situationen, die kann man nicht trainieren. Man kann das hundertmal üben. Wenn aber eine Kleinigkeit anders ist, ist alles anders." Deshalb glaubt er nicht, dass sich nach dem Vorfall viel am Training bei der Polizei ändern wird. Was sich aber verändert hat, ist das Bewusstsein bei vielen Kolleginnen und Kollegen in der Mannheimer Polizei.
Dass der Job gefährlich ist, wissen alle. Trotzdem ist das Risiko, verletzt zu werden, bei vielen wieder präsenter im Kopf. Nicht nur bei Martin Jost, sondern auch bei seiner Familie. Es wird wohl noch Monate dauern, bis alle das Geschehene von jenem 31. Mai verarbeitet haben.
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