Auch im Unwetter-Sommer 2024 steigen sie auf und sollen Wolken gegen große Hagelkörner "impfen". Finanziert werden sie auch durch Steuergelder - an ihrer Wirkung gibt es jedoch Zweifel.
Bei Gewitter tritt er häufig auf und kann in kurzer Zeit Autos, Häuser und auch die Ernte beschädigen: Hagel. Schäden in Höhe von rund 117 Millionen Euro sind laut dem Gesamtverband der Versicherer (GDV) 2022 in Baden-Württemberg durch Sturm und Hagel entstanden. Das ist deutlich mehr als bei anderen Naturgefahren wie Überschwemmungen. Und: Durch die Folgen des Klimawandels werden Extremwettererscheinungen wie Hagel immer wahrscheinlicher.
Auch für den Mittwoch warnt der Deutsche Wetterdienst (DWD) vor Gewittern und örtlichen Unwettern. Lokal sind dann wieder Starkregen, Sturmböen und Hagel möglich. Erst am Dienstag haben Unwetter mit Starkregen im Kreis Karlsruhe für Überschwemmungen gesorgt. Mitte Juli verursachten Hagelkörner mit mehreren Zentimetern Durchmesser im Rems-Murr-Kreis und im Kreis Ludwigsburg heftige Schäden. Um sich gegen Extremwetter zu wappnen, treffen viele Kreise und Städte in Baden-Württemberg Vorbereitungen. Gegen Hagelschäden steigen beispielsweise sogenannte Hagelflieger in den Himmel. Das kostet viel Geld - und der Nutzen ist umstritten.
DWD warnt vor Unwetter und Hagel in BW Interview: Wie entstehen Gewitter und nehmen sie durch den Klimawandel zu?
Der Sommer in Baden-Württemberg ist geprägt von starken Unwettern. Hagelforscher Michael Kunz aus Karlsruhe erklärt, wann Hagel oder Starkregen droht und was der Klimawandel damit zu tun hat.
Was machen Hagelflieger?
Fakt ist: In der Hoffnung Hagelschäden zu verringern, werden seit mehr als 40 Jahren Hagelflieger in einzelnen Regionen in Baden-Württemberg eingesetzt. Im vergangenen Jahr sind im Großraum Stuttgart und in Württemberg zum Beispiel über 70-mal Hagelflieger unterwegs gewesen. Das hat die Württembergische Gemeinde-Versicherung (WGV) am Dienstag mitgeteilt.
Die Piloten der Hagelabwehr fliegen bei Hagelgefahr zu Gewitterwolken auf und versprühen ein Silberjodid-Aceton-Gemisch. Dieses soll verhindern, dass sich in einer Gewitterzelle große Hagelkörner bilden und dafür sorgen, dass sich die Wolke stattdessen abregnet. So soll das Risiko für schwere Hagelschäden beispielsweise im Obst- und Weinbau oder an Immobilien reduziert werden. Betreut werden die Hagelflieger dabei von Wetterexperten. Ganz vorne bei der Hagelabwehr steht der Rems-Murr-Kreis, es gibt aber auch andere Flieger zum Beispiel in der Ortenau, in Reutlingen und im Schwarzwald-Baar-Kreis.
Wirkung von Hagelfliegern nicht wissenschaftlich nachgewiesen
Finanziert werden Hagelflieger unter anderem von Landkreisen, Städten, Gemeinden und Versicherungen - also kurz gesagt von Steuergeldern. Auch Weingenossenschaften und Winzer beteiligen sich an der Finanzierung. Und das, obwohl es bis heute keinen wissenschaftlichen Nachweis gibt, dass die Methode wirklich funktioniert. Das ist auch der Grund dafür, dass Hagelflieger nicht weltweit unterwegs sind, sondern nur in einigen Regionen.
Michael Kunz, Hagelforscher am Karlsruher Institut für Technologie (KIT), hat Zugang zu Radardaten in ganz Deutschland und kommt zu einem klaren Ergebnis: "In den verschiedenen Datensätzen, die uns zur Verfügung stehen, wie Radardaten oder Schadendaten von Versicherungen sehen wir leider überhaupt keinen Effekt in den Regionen, in denen die Hagelflieger unterwegs sind." Sowohl in der Landwirtschaft als auch bei Gebäudedaten kann der Leiter der Arbeitsgruppe Atmosphärische Risiken nicht beobachten, dass die Hagelschäden in den Regionen geringer ausfallen, wo Hagelflieger im Einsatz waren.
Hagelabwehr weist Kritik zurück
Die Hagelabwehr im Rems-Murr-Kreis beruft sich in ihrem Geschäftsbericht von 2023 auf Erfahrung: "Hagelabwehr, wie sie in unserer Region schon seit vielen Jahren betrieben wird, trägt dazu bei, die Folgen von schwerem Hagelschlag zu vermindern. Schäden an landwirtschaftlichen Kulturen, Immobilien und Kraftfahrzeugen können durch den Einsatz der Hagelflieger reduziert werden."
Der Bericht geht auch auf die Kritik der fehlenden wissenschaftlichen Nachweisbarkeit ein. Damit sei meistens die Wiederholbarkeit wie im Laborversuch gemeint, "diese kann man in der Natur tatsächlich nicht erbringen", heißt es. Man könne lediglich einzelne Statistiken wie Versicherungsfälle oder Radarbilder vergleichen oder Computersimulationen durchführen.
Hagelforscher: Kein Zusammenhang zwischen Hagelflieger und Hagelgröße
Hagelforscher Michael Kunz arbeitet mit Modellen, die vergangene Hagelereignisse simulieren können. In diesen kann man verschiedene Parameter anpassen und so auch den Einsatz vom Silberjodid-Aceton-Gemisch durch die Hagelflieger simulieren. Auch hier sieht der Wissenschaftler keinen Beweis für die Wirksamkeit von Hagelfliegern. Es gebe keinen linearen Zusammenhang zwischen dem eingesetzten Gemisch und der Hagelgröße, so Kunz.
Die Struktur in Gewitterwolken sei so komplex, dass durch den Einsatz des Silberjodid-Aceton-Gemischs verschiedene Effekte eintreten können: "In manchen Situationen wird der Hagel nach dem Impfen vielleicht kleiner, in anderen aber möglicherweise sogar größer oder es gibt keinen Effekt", so der Hagelforscher.
"Wettermodifikation" kann zu neuen Gefahren führen
Selbst wenn es den Hagelfliegern gelinge, die Hagelgröße zu verringern, sei der Schaden nur verschoben, so Kunz. "Wenn man in das Wetter eingreift, muss man damit rechnen, dass andere Gefährdungen wie zum Beispiel Starkregen und Sturzfluten zunehmen können - die dann andere Gebiete und andere Person und Objekte treffen". Denn die Feuchtigkeit in der Wolke muss irgendwann zu Boden kommen.
"Ich kann es nicht nachvollziehen, dass Wettermodifikation einfach erlaubt ist, ohne dass wissenschaftliche Klarheit hinsichtlich der möglichen Folgen für die Bevölkerung besteht", sagt der Hagelforscher. Als Beispiel nennt er das Gewitter im Juni 2021, bei dem die Gewitterzelle auch von den Hagelfliegern "geimpft" worden sei. Das Gewitter war dennoch von Hagel, aber auch von massiven Sturzfluten mit verwüsteten Häusern und vollgelaufenen Kellern geprägt. "Bei manchen vergangenen Ereignissen stellt man sich schon die Frage: Hätte es vielleicht die Schäden durch Sturzfluten nicht gegeben, wenn die Wolke nicht 'geimpft' worden wäre?"
Am 30. Juni 2023 waren Michael Kunz und seine Forschung Thema in der Landesschau Baden-Württemberg:
Hagelabwehr im Rems-Murr-Kreis kostet über 360.000 Euro
Versicherungen, Kommunen und auch Winzer halten jedoch an der Wirksamkeit von Hagelfliegern fest. Fast 140.000 Euro zahlten die Kommunen und Landkreise im vergangenen Jahr für die Hagelabwehr im Rems-Murr-Kreis bei einem Gesamtaufwand von rund 360.00 Euro.
Die Württembergische Gemeinde-Versicherung finanziert eigene Hagelflieger und gab im Jahr 2023 für zwei Flieger inklusive Betriebsmittel 450.000 Euro aus. Im Kontext von durchschnittlich 8.000 Kfz-Hagelschäden pro Jahr und somit Schadenaufwendungen von 24 Millionen Euro sind die Kosten der Hagelabwehr verhältnismäßig, schreibt die Versicherung auf SWR-Anfrage. Sie sei von den Vorteilen der Hagelabwehr überzeugt und würde eine Ausweitung der Beteiligung weiterer Landkreise, Vereine oder Versicherungen sehr begrüßen.
Rems-Murr-Kreis hält an Finanzierung von Hagelfliegern fest
Auch der Rems-Murr-Kreis zeigt sich auf SWR-Anfrage im Mai dankbar für alle Finanzierungspartnerinnen und -partner. Trotz Kritik halte das Landratsamt an den Hagelfliegern und der finanziellen Unterstützung fest: "Die Hagelflieger in der Region Stuttgart sind seit 44 Jahren im Einsatz. Unsere Erfahrungen und Beobachtungen zeigen, dass es seit dieser Zeit gegenüber der Zeit davor deutlich weniger Hagelereignisse und in der Folge weniger Schäden gab."
Zudem gebe es neue Studien mit "hochaufgelösten Wettervorhersagemodellen", die eine Veränderung des Gewitters zeigten, so das Landratsamt Rems-Murr-Kreis. "Aufgrund der enormen Schadenshöhen, die ein Hagelereignis in kurzer Zeit verursachen kann, gehen wir davon aus, dass die Kosten für die Hagelabwehr bereits durch die Verhinderung oder Minimierung weniger Hagelereignisse schnell kompensiert werden."
Bisher entscheiden Städte und Gemeinden im Rahmen der kommunalen Selbstverwaltung individuell, ob sie sich an der Finanzierung der Hagelabwehr beteiligen. Der Gemeindetag Baden-Württemberg schreibt aber auf SWR-Anfrage: "Insbesondere stark landwirtschaftlich geprägte Gemeinden, vor allem mit Wein- und Obstbau, können durchaus ein Interesse an einer Unterstützung solcher Zusammenschlüsse haben."
Hagelabwehr bedeutet Risikomanagement für Weinwirtschaft
Auch die Weinwirtschaft in Württemberg unterstützt die Hagelflieger finanziell an den Einsatzorten. Laut Hermann Morast, Geschäftsführer des Weinbauverbands Württemberg, können sie einen "wesentlichen Teil des überbetrieblichen Risikomanagements gegen Ertragsausfälle darstellen".
Der Verband geht davon aus, dass die Finanzierung der Hagelflieger in Zukunft nur durch weitere Förderungen möglich sein wird. Sie schützten schließlich auch Industrieanlagen und Wohngebäude. Ertragsausfallversicherungen gegen Hagelschäden werden nicht vom Landwirtschaftsministerium gefördert. Zur Unterstützung des Risikomanagements fordert der Verband deshalb eine Ausweitung der bestehenden Förderung auch auf Schäden durch Hagel.
Hagelforscher: Einsatz von Hagelfliegern lohnt sich nicht
Für Michael Kunz vom KIT lohnt sich der Einsatz von Hagelfliegern ganz klar nicht. Selbst wenn die Flieger in manchen Fällen einen Effekt zeigten, gebe es logistische Probleme. "Hagelgewitter bilden sich oftmals extrem schnell. Um einen Effekt zu erreichen, müssen die Wolken aber möglichst früh geimpft werden. Das ist dann natürlich ein großes Problem, zur richtigen Zeit am richtigen Ort zu sein." Gleichzeitig könne ein einzelnes Flugzeug mit dem Silberjodid-Aceton-Gemisch kaum gegen eine große Gewitterwolke ankommen.
Der Hagelforscher räumt aber ein: "Hagelereignisse sind eben teuer - wir sprechen da schon vom Milliardenbereich - und ein Hagelflieger kostet ungefähr 200.000 Euro pro Jahr. Angesichts der der hohen Schadenssumme spielen Hagelflieger also keine große Rolle."
Fachtagung des KIT Karlsruhe: Wie lässt sich Hagel besser erforschen?
In Karlsruhe sind Forschende sowie Expertinnen und Experten aus aller Welt bei einer Fachtagung des KIT dem Hagel auf der Spur. Denn bisher wissen wir wenig über das Phänomen.
Durchbruch bei kurzfristiger Hagel-Vorhersage erwartet
Fragt sich, wie man dem Wetterphänomen beikommt. Denn Zweifel gibt es nicht nur an der Wirksamkeit von Hagelfliegern, auch bei der Warnung vor Hagel hapert es. Er gilt als schwer vorherzusagen und noch nicht ausreichend erforscht. "Die Bildung von Hagel ist extrem komplex aufgrund des Zusammenspiels einer großen Anzahl an Prozessen", sagt Hagelforscher Kunz. "Hagelschäden haben in den vergangenen Jahren massiv zugenommen. Daher ist es dringend notwendig, die Forschung auf diesem Gebiet erheblich zu intensivieren." Deshalb hat er zum Beispiel den vierten "European Hail Workshop" im März 2024 zum Austausch von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler organisiert.
Die Hagelvorhersage habe sich laut Kunz in den letzten Jahren aber schon "massiv verbessert". "Ich erwarte in den nächsten Jahren einen Durchbruch bei der Vorhersage von Hagel in Deutschland. Die neueste Generation der Wettervorhersagemodelle des Deutschen Wetterdienstes ist mittlerweile in der Lage, Hagel und andere Gefahren relativ gut für einen Zeitraum von wenigen Stunden vorherzusagen." Dann brauche es nur noch ein entsprechend gutes Warnsystem, sodass die Informationen an die Bürgerinnen und Bürger kommen.
Mehr zu Unwetter, Hagel und Starkregen
70 Einsätze nach Unwetter in Langenau Gewitter ziehen erneut über BW: Vollgelaufene Keller und entwurzelte Bäume im Alb-Donau-Kreis
Nach dem schweren Unwetter am Dienstagabend im Raum Karlsruhe hat es am Mittwoch erneut Gewitter in Baden-Württemberg gegeben. Besonders betroffen war der Alb-Donau-Kreis.
DWD warnt vor Unwetter und Hagel in BW Interview: Wie entstehen Gewitter und nehmen sie durch den Klimawandel zu?
Der Sommer in Baden-Württemberg ist geprägt von starken Unwettern. Hagelforscher Michael Kunz aus Karlsruhe erklärt, wann Hagel oder Starkregen droht und was der Klimawandel damit zu tun hat.
Vollgelaufene Keller und Öl-verseuchter Schlamm Nach Hochwasser im Kreis Karlsruhe: Kein Ende der Aufräumarbeiten in Sicht
Ein Unwetter hat den nördlichen Landkreis Karlsruhe am Dienstagabend schwer getroffen. Hunderte Einsatzkräfte waren bis zum Abend bei den Aufräumarbeiten und noch ist kein Ende in Sicht.