Was Kinder im Internet alles zu sehen bekommen, lässt sich nicht so leicht kontrollieren. Schulleiterin und Buchautorin Silke Müller warnt vor den Gefahren im Netz.
Silke Müller ist Schulleiterin in Niedersachsen und hat das Buch "Wir verlieren unsere Kinder!" geschrieben. Im SWR1 Interview macht sie darauf aufmerksam, was Kinder im Netz alles zu sehen bekommen und wie Eltern sich und ihre Kinder darauf vorbereiten können.
SWR1: Es gibt Eltern, die schränken die Bildschirmzeit ein und wissen genau, welche Apps auf den Smartphones der Kinder sind. Das reicht Ihrer Meinung nach aber nicht.
Silke Müller: Manchmal habe ich das Gefühl, es ist auch ein bisschen seiner eigenen Hilflosigkeit gerecht zu werden. Man überwacht sein Kind ein bisschen, und man hat vielleicht auch die Sicherheit, dass Kinder nicht permanent bespielt werden können mit Inhalten. Aber es reicht, wenn sie in ihren Freundeskreisen oder im Sportverein oder beim Treffen am Nachmittag irgendein Kind dabeihaben, das eben keine Absicherung auf dem Handy hat. Dadurch ist dann der Zugang eben doch auch anders gewährleistet.
SWR1: Als Schulleiterin haben Sie schon viel gesehen und gehört, was auf den Handys der Kinder passiert. Was hat Sie am meisten schockiert?
Müller: Mich schockieren eigentlich unterschiedliche Dimensionen. Zum einen ist es diese massive Gewalt und Verrohung im Sinne von Foltervideos. [...] Es gibt im Grunde genommen keine Grenze mehr, die nicht überschritten wird. Oder auch dieses große Verschicken von Nacktfotos immer wieder. Denn man muss wissen, sexuelle Ersterfahrungen finden oft nicht mal mehr Kinderzimmer statt, sondern im Netz. Und das macht mir alles große Sorgen.
SWR1: Wie sollten Eltern reagieren? Handys zu verbieten, ist wahrscheinlich keine Lösung.
Müller: Genau. Man muss auch viele Vorteile sehen, die tatsächlich soziale Netzwerke oder die Nutzung mobiler Geräte mit sich bringen. Aber was wir machen müssen, ist uns in die Welt der Kinder begeben, damit wir auf Augenhöhe mit ihnen sprechen können. Wenn ich anfange zu sagen, mein Kind macht das nicht, dann setze ich schon so einen Duktus des Schams über das ganze Thema.
Im Grunde muss man wissen, die Welt der Kinder und Jugendlichen – aber ehrlicherweise auch von uns Erwachsenen – ist eben so geworden, wie sie ist. Das müssen wir hinnehmen. Und wir müssen eher den Kindern sagen: "Pass mal auf, du hast jetzt ein Smartphone und kommst möglicherweise mit Inhalten in Berührung. Ich bin immer für dich da, wir sprechen miteinander. Wenn es Probleme gibt, dann holen wir die gemeinsam vom Tisch." Das andere ist, dass ich von Anfang an unfassbar gute Regeln festlegen sollte, wenn ich meinem Kind ein Smartphone in die Hand drücke. Die wichtigste ist: Kein Smartphone im Kinderzimmer, wenn die Kinder schlafen gehen! Es ist einfach wichtig, mit den Kindern auf Augenhöhe zu reden, ihnen die Hand zu geben und sagen, du bist nicht allein.
SWR1: Was halten Sie davon, heimlich zu gucken, was auf dem Handy des Kindes los ist?
Müller: Theoretisch wird man sofort sagen, auf gar keinen Fall. Manchmal hat man aber das Gefühl, es ist irgendwie Gefahr im Verzug. Mein Kind verändert sich, was ist da los? Kinder lassen möglicherweise nicht den direkten Zutritt zum Handy zu. Also grundsätzlich würde ich sagen "Nein", machen Sie es in Absprache.
Das wäre eine Regel, die ich am Anfang sofort festlegen kann, dass im Netz eben nichts vertraulich und geheim bleibt und jeder die Möglichkeit hat – alleine durch einen Screenshot – Inhalte sofort zu verteilen. Also sollte man mit den Kindern sofort vereinbaren, wir gucken einfach mal gemeinsam oder du erzählst mir davon oder wir räumen mal die Fotogalerie auf. Wenn Gefahr im Verzug ist, würde ich zumindest sagen, liebes Kind, wir müssen jetzt gemeinsam gucken, denn ich mache mir große Sorgen. Ich kann Eltern manchmal verstehen, auch wenn es nicht richtig ist, dass sie diesen Drang haben.
SWR1: Was wünschen Sie sich? Was muss sich ändern?
Müller: Also einerseits haben wir super Präventionsprogramme im Bundesgebiet, und die sind auch klasse. Ich glaube, wir müssen das Thema deutlich mehr fokussieren, dass Prävention noch mehr in Schulen Einzug erhält und noch mehr Möglichkeiten da sind, über aktuelle Phänomene zu sprechen und aufzuklären. Außerdem brauchen wir unbedingt politische, flankierende Maßnahmen. Da spreche ich von einer Anpassung des Jugendschutzgesetzes, das zwar regelt, mit welchem "Muttizettel" man auf welches Dorffest darf, aber im Grunde nichts, was soziale Netzwerke angeht.
Natürlich gibt es eine Altersbeschränkung bei den Netzwerken, die sind aber nicht ausreichend, und man kann diese Hürden sehr schnell überschreiten. Es muss auch darüber nachgedacht werden, wann ist der Zeitpunkt, dass wir endlich eine "Onlinestreife" bekommen? Weil Kindern sagen, den Notruf 110 kann ich auf der Straße rufen. Im Netz ist niemand da, den ich rufen kann.
Und wir müssen uns Gedanken machen, wie es sein kann, dass gewisse Inhalte überhaupt zur Verfügung stehen. Ich erwähne immer wieder das böse Wort Zensur, das natürlich einer Geschichte unterliegt. Aber möglicherweise müssen wir dieses Wort mal entmystifizieren und überlegen, wie wir Inhalte auch wirklich regulieren können. Das sind politische Fragen.
Das Gespräch führte SWR1 Moderatorin Steffi Stronczyk.
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