Ein Wandermönch gründet das Kloster im See
Die Statue des heilige Pirminius steht am Ufer der Reichenau. Woher Pirminius kam, ist nicht überliefert – vielleicht aus dem heutigen Frankreich oder Irland. Doch im Jahr 724 wird der Wandermönch zum Gründer eines der bedeutendsten Wissens-, Macht- und Kulturzentren Europas im frühen Mittelalter.
Auf die Reichenau geholt haben soll ihn laut Heiligenvita der alemannische Fürst Sintlas. Er sei von Pirminius‘ Predigten so ergriffen gewesen, dass er ihn bat, für ihn eine Kapelle zu errichten. Pirminius wählt als Standort die Insel im unteren Bodensee.
Gemäß der Überlieferung soll die Insel von Urwald überwuchert und von Schlangen, Kröten und anderem sinistren Getier bevölkert gewesen sein, als der Heilige mit 40 Anhängern an Land ging. Drei Tage Läuterung braucht es, um die Reichenau vom Natterngezücht zu befreien. Dann errichten die Mönche das erste Kloster auf der Insel.
Das genaue Datum der Gründung bleibt bis heute Spekulation, Urkunden oder andere authentische Schriftzeugnisse aus dem 8. Jahrhundert sind nicht überliefert. Als Quelle für das Gründungsjahr dient die „Visio Wettini“, ein Text des Reichenauer Benediktiners Walahfrid Strabo, der erst hundert Jahre später entstand.
Knotenpunkt im Reich Karls des Großen
Nur drei Jahre bleibt Pirminius auf der Bodenseeinsel, er stirbt 753 im ebenfalls von ihm gegründeten Kloster Hornbach in der Pfalz. Die Benediktinermönche, die auf der Reichenau verbleiben, erkennen die geographisch günstige Lage des Klosters dank der guten Handelsanbindung über den Rhein und die Nähe zu den Alpen. Die Reichenau wird zum wichtigen Knotenpunkt im Reich der Franken.
Spätestens als Karl der Große 774 den Langobardenkönig Desiderius besiegt und damit das heutige Nord- und Mittelitalien bis Rom unter seine Herrschaft bringt, wird die Reichenau eine wichtige Station auf dem Weg in den Süden. Die Äbte stehen im engen Kontakt mit den Regierenden und besetzen zentrale Machtpositionen.
So fungiert Abt Waldo von Reichenau, der dem Kloster von 786 bis 806 vorsteht, als Erzieher und Berater für Karls Sohn Pippin, den König von Italien.
Forum Welterbe am Bodensee – 1300 Jahre Klosterinsel Reichenau
Gregor Papsch diskutiert mit
Marvin Gedigk, Historiker und Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Badischen Landesmuseum Karlsruhe
Dr. Tanja Kinkel, Schriftstellerin, München
Prof. Dr. Steffen Patzold, Lehrstuhl für Mittelalterliche Geschichte, Universität Tübingen
Waldo baut das Kloster Reichenau zum politischen und wissenschaftlichen Zentrum aus. Ganz in der Tradition des nahen Klosters St. Gallen lässt er eine große Bibliothek und eine Klosterschule gründen.
So entstehen im Kloster bedeutende Handschriften wie der St. Galler Klosterplan (um 830), eine idealisierte Skizze des nahen Klosterkomplexes, oder das Reichenauer Verbrüderungsbuch, in dem ab den 820er-Jahren die Mitglieder der Bruderschaft verzeichnet sind. Um das Jahr 840 schreibt Walahfrid Strabo den „Hortulus“, eine botanische Abhandlung in Form eines Lehrgedichts.
Romanisches Welterbe
Aus der karolingischen Zeit stammen die drei großen Kirchen, die seit dem Jahr 2000 zum Weltkulturerbe gehören: Das Münster St. Maria und Markus steht wahrscheinlich an der Stelle der ersten Klosterkirche. Hier liegt auch Karl III., der Urenkel Karls des Großen und letzte König des vereinten Frankenreiches, begraben.
Ende des 9. Jahrhunderts wird zur Verehrung der Reliquien des heiligen Georg – ein Geschenk des Papstes Formosus – die Georgskirche in Oberzell errichtet. Noch heute beeindrucken die romanischen Wandgemälde, die die Wundertaten Jesu abbilden.
Die Kirche St. Peter und Paul an der Westspitze der Insel ließ Bischof Egino von Verona errichtet, der sich vermutlich aufgrund politischer Konflikte in Norditalien für seine letzten Lebensjahre auf die Reichenau zurückzog.
Zweite Blüte unter den Ottonen
Nach dem Niedergang der karolingischen Dynastie erlebt die Reichenau im 10. Jahrhundert unter den Ottonen eine zweite Blütezeit: Sowohl Otto II. und seine Frau Theophanu besuchen die Insel, Otto III. schätzt die Klosterinsel für das dortige Kunsthandwerk, allem voran für die kostbaren Handschriften und Buchmalereien der Reichenauer Malschule.
Die Bücher von der Bodenseeinsel verbreiten sich im Mittelalter in ganz Europa. Zehn Codices von der Reichenauer Schule sind heute Teil des UNESCO-Weltdokumentenerbes. Eine der bekanntesten Malerein: Das Widmungsbild des Kaisers aus dem heute in München befindlichen Evangeliar Ottos III. (um 1000).
Auch eindrucksvolle Goldschmiedearbeiten wie Bucheinbände und Reliquiare entstehen ab dem 9. Jahrhundert auf der Reichenau. Sogar die Reichskrone, die heute in der Schatzkammer der Wiener Hofburg verwahrt wird, könnte aus den Werkstätten des Klosters stammen.
Niedergang und Wiederauferstehung
Zu Hochzeiten leben auf der Reichenau bis zu 80 Benediktiner. Doch mit dem Aufstieg neuer Ordensgemeinschaften verliert das Kloster am Bodensee nach und nach an Bedeutung. Ihre Stellung als Zentrum der Wissenschaft büßt die Reichenau, wie auch andere Klöster des frühen Mittelalters, mit dem Aufkommen der Universitäten ein.
Im Jahr 1540 tritt der letzte Reichenauer Abt die Klosterleitung an das Bistum von Konstanz ab. Das Kloster Reichenau, das zu diesem Zeitpunkt noch 12 Mönche beherbergt, verliert damit seine Eigenständigkeit. Die letzten Mönche verlassen die Reichenau im Jahr 1757, die Säkularisierung Napoleons tut 1803 ihr übriges.
Es dauert knapp 250 Jahre bis sich wieder Benediktinermönche auf der Reichenau niederlassen. Im Jahr 2004 gründen sie die Cella Sankt Benedikt. Das Kloster auf der Bodensee-Insel ist damit nicht nur Vergangenheit, es ist auch Gegenwart und Zukunft.