Digitale Zwillinge könnten in Zukunft bei der Behandlung von Erkrankungen helfen. Bisher gab es sie nur für Erwachsene, jetzt wurde ein digitales Abbild für Neugeborene entwickelt.
Wer in den letzten Jahrzehnten ein Kind bekommen hat, kennt wahrscheinlich auch das Neugeborenenscreening. Die Untersuchung wird kurz nach der Geburt gemacht, um Stoffwechselerkrankungen schon früh zu erkennen.
Viele dieser Krankheiten sind behandelbar, und dabei könnten in Zukunft sogenannte digitale Zwillinge eine wichtige Rolle spielen. Darunter kann man sich in der Medizin eine Art virtuelle Kopie vom eigenen Körper vorstellen. Diese digitalen Zwillinge für Neugeborene hat jetzt ein Forschungsteam aus Heidelberg und Galway entwickelt, die Ergebnisse wurden in der Fachzeitschrift Cell Metabolism veröffentlicht.
Medizin und Mathematik arbeiten zusammen
Der Begriff der “Digitalen Zwillinge” wurde eigentlich von der NASA erfunden; sie wollte ihre Raumschiffe vor einer Mission erst am Computer testen.
In der Medizin gab es digitale Zwillinge bisher vor allem für Erwachsene. Sie sollen in Zukunft zum Beispiel dabei helfen, Krebs oder Herzerkrankungen zu behandeln, indem der digitale Zwilling ganz individuell den Körper der betroffenen Person darstellt. Jetzt wurden zum ersten Mal auch digitale Zwillinge für den gesamten Stoffwechsel von Neugeborenen entwickelt.
Damit erhoffe man sich, die Erforschung von seltenen Stoffwechselerkrankungen bei Säuglingen zu unterstützen, so Elaine Zaunseder, die Erstautorin der Studie. Sie erklärt: "Den ganzen Stoffwechsel und alle Reaktionen, die darin ablaufen, kann man sich wie ein riesiges Netzwerk vorstellen, wo die verschiedenen chemischen Bestandteile durchfließen. Und dieses Netzwerk kann man dann mathematisch in eine Matrix übersetzen."
Zaunseder ist Doktorandin der Mathematik, sie forscht am Heidelberger Institut für Theoretische Studien und an der Universität Heidelberg, unter der Leitung von Prof. Vincent Heuveline, der ebenfalls an der Studie mitwirkte.
Digitale Zwillinge zeigen, wie das Kind wächst
Die digitalen Zwillinge simulieren den kindlichen Stoffwechsel in den ersten sechs Lebensmonaten. Man kann sehen, wie viel das hypothetische Kind trinkt, wie viel es schwitzt und wie viel Energie es verbraucht. Dabei werden mehr als 80.000 Stoffwechselreaktionen und 26 Organe nachgebildet.
Außerdem sollen die Berechnungen vorhersagen, wie die Säuglinge wachsen und wie der Stoffwechsel der Organe sich dabei verhält. Dafür verglichen die Forschenden ihre Modelle auch mit den Daten echter Kinder und passten sie entsprechend an. So können sowohl gesunde Neugeborene als auch Kinder mit Stoffwechselerkrankungen dargestellt werden.
Viele verschiedene Einsatzmöglichkeiten für digitale Zwillinge
Digitale Zwillinge könnten Ärztinnen und Ärzten in Zukunft in verschiedenen Bereichen helfen, sagt Prof. Stefan Kölker. Er ist Leiter der Sektion für Neuropädiatrie und Stoffwechselmedizin am Zentrum für Kinder- und Jugendmedizin des Universitätsklinikums Heidelberg und war auch an der Entwicklung der digitalen Zwillinge beteiligt:
"Wir hoffen mit diesem Modell zukünftig frühzeitig Vorhersagen zum Schweregrad einer Krankheit treffen zu können und frühzeitig abzuschätzen, wie intensiv eine Therapie sein sollte, um betroffenen Kindern bestmöglich helfen zu können."
So ließe sich in Zukunft auch das Neugeborenscreening und die Behandlung von Kindern mit Stoffwechselerkrankungen verbessern. Mit dem Modell könnten Behandler auch genauer berechnen, welche Menge eines Medikaments ein Kind bekommen soll.
Entscheidungshilfe für Ärztinnen und Ärzte
Es wird noch einige Zeit dauern, bevor der digitale Zwilling bei Kindern im Krankenhaus eingesetzt werden könnte. Zunächst müssen die Forschenden das Modell weiter trainieren und überprüfen.
Und auch später sei noch Vorsicht angesagt, so der Stoffwechselmediziner: "Auch zukünftig, falls das Modell angewendet wird, gilt es weiterhin zu hinterfragen, ob das, was das Modell postuliert, auch wirklich plausibel sein kann. Insofern halte ich es für realistisch, dass uns das Modell in Zukunft eine Art Handlungsempfehlung geben kann. Ob diese dann jedoch angenommen wird oder nicht, wird in ärztlicher Entscheidungsverantwortung bleiben."
Weiterentwicklung des Modells ist geplant
Das Forschungsteam arbeitet weiter an den digitalen Zwillingen, damit sie den echten Neugeborenen noch ähnlicher werden. Ein nächster Schritt wäre zum Beispiel, andere Arten der Ernährung mit einzubeziehen. Denn im Moment gibt es nur digitale Zwillinge für Säuglinge, die ausschließlich gestillt werden.
Auch Modelle für Frühgeborene und andere Altersstufen sind wichtige nächste Schritte. Elaine Zaunseder: "Ganz persönlich fände ich es spannend, meine virtuellen Babys aufwachsen zu sehen, und den Stoffwechsel über das Kleinkindalter bis hin zum Teenager zu sehen."
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