Medizin

Digitale Süchte: Immer mehr Erwachsene suchen Hilfe

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Autor/in
Anja Braun
Anja Braun, Reporterin und Redakteurin SWR Wissen aktuell.
Onlinefassung
Antonia Weise

Nach Pandemie und Lockdowns suchen immer mehr Erwachsene mit digitalem Suchtverhalten psychosomatische Spezialambulanzen auf. Welche Ursachen hat die Sucht nach digitalen Medien in der Altersgruppe von Menschen über 30 Jahren?

Zahl der Betroffenen in höherer Altersgruppe gestiegen

Die Sucht nach digitalen Angeboten war bisher eher unter Menschen bis 30 Jahre verbreitet. Doch mit der Pandemie ist auch die Zahl der Menschen im Alter von 30 bis 67 Jahren angestiegen. Rund 25 Prozent mehr Betroffene haben allein in der Klinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie der Universitätsmedizin Mainz nach Hilfe gesucht, so Klaus Wölfling, Leiter der Ambulanz für Spielsucht in Mainz.

Andere Suchtkliniken berichten einen ähnlichen Anstieg gerade unter älteren Menschen. Nachdem während der Pandemie und den Lockdowns gewohnte Strukturen weggebrochen sind, haben sich gerade ältere Menschen oft einsam gefühlt und diesen Leerlauf mit sozialen Medien gefüllt.

Der Leiter der Psychologischen Ambulanz für Spielsucht der Universitätsmedizin der Johannes-Gutenberg-Universität, Klaus Wölfling
Klaus Wölfling ist Diplom-Psychologe und Leiter der psychologischen Ambulanz für Spielsucht der Universitätsmedizin der Johannes-Gutenberg-Universität in Mainz.

"Chatten, Social Media aber auch Online-Rollenspiele bieten Personen ein soziales Netzwerk, die vielleicht im realen Leben etwas weniger Kontakte haben."

Bei Menschen, die durch den Alterungsprozess etwas vereinsamen, würden ähnliche Mechanismen greifen, wie wir sie aus der Jugend oder dem jungen Erwachsenenalter kennen würden, so der Experte.

Belohnungssystem im Gehirn wird beim Konsumieren aktiviert

Die Betroffenen schaffen es dann nicht mehr, den eigenen Internetkonsum zu kontrollieren. Gerade die intensive Nutzung von Social Media kann dazu führen, von den dort angewandten Belohnungsstrukturen mit ihren Likes abhängig zu werden.

"Die Personen warten sozusagen auf ein Like - und wenn man das exzessiv nutzt, kann das dazu führen, dass sich das Belohnungssystem verändert und wir uns darauf fokussieren.“

Hirnscans konnten zeigen, wie die Internetaktivität das Belohnungssystem im Gehirn aktiviert. Im MRT könne man diesen Dopaminschub sehen, wenn ein Like auf einen Post erfolgt oder bei Nachrichten das blaue Häkchen für „gelesen“ erscheint, sagt Psychologe Wölfling.

Gerade diese Erregung, dieser Dopaminschub, wird dann immer wieder gesucht. Vor allem ältere Abhängige sind oft einsam und suchen im Internet Anschluss. Laut Wölfling würden die sozialen Medien aber auch die Computerspiele oder der erotische Chat im Prinzip diese Lücke füllen. So kann man schleichend in eine Abhängigkeit hineingeraten.

Likes führen zur Aktivierung bestimmter Areale im Gehirn
Für viele Menschen fühlen sich Likes gut an, denn sie können das Belohnungssystem im Gehirn aktivieren.

Dass Seniorinnen und Senioren eine Sucht entwickelt haben, fällt häufig zunächst ihren Kindern auf. Sie registrieren, dass die Eltern nicht mehr abwaschen oder einkaufen gehen, so der Mainzer Diplom-Psychologe. Die Betroffenen verlieren immer mehr die Kontrolle über ihren Alltag.

Wann gelten Personen als internetsüchtig?

Wenn sie sich bei einer Suchtambulanz melden, wird anhand von mehreren Kriterien geprüft, ob es sich tatsächlich um eine krankhafte Abhängigkeit handelt:

"Da müssen mindestens fünf von neun Kriterien erfüllt sein, um von Sucht zu sprechen. Uns ist auch ganz wichtig, dass wir nicht überdiagnostizieren und sozusagen eine digitale Pandemie herausbeschwören wollen.“

Eine lange Online-Spielzeit von mehr als zehn Stunden pro Tag vor dem Bildschirm reicht zum Beispiel alleine nicht aus, um eine Abhängigkeit zu bestätigen. Dazu müssen weitere Faktoren kommen. Eine Sucht äußert sich unter anderem folgendermaßen:

"Ich brauche immer mehr der digitalen Stoffe, um ein bestimmtes Gefühl zu bekommen und um negative Empfindungen auszugleichen. Dazu kommt, dass sich diese Personen immer mehr aus der Realität zurückziehen und sich immer mehr auf diese virtuellen Kontakte fokussieren. Sodass die Internetnutzung letztlich zum einzigen Verstärker wird, den diese Personen noch haben.“

WHO: Internetsucht ist Kokain- und Alkoholabhängigkeit gleichgestellt

Während die Altersgruppe bis 45 Jahren vor allem Online-Rollenspiele und Egoshooter nutzt, suchen ältere Menschen im Internet eher nach sozialem Kontakt. Generell nutzen Männer tendenziell häufiger Online-Pornografie, Computer- oder Glücksspiele. Frauen ziehen Glücksspiele, soziale Netzwerke und Messengerdienste vor.

Ein Mann spielt auf seinem Laptop ein Computerspiel.
Männer sind im Gegensatz zu Frauen eher computerspielsüchtig.

Inzwischen sind Internet-, Computer- oder Glücksspielsucht im Diagnoseschlüssel ICD-11 der WHO als Suchterkrankungen aufgenommen worden und damit der Kokain- und Alkoholabhängigkeit gleichgestellt. Bis zum Ende diesen Jahres will auch Deutschland die neuen Diagnoseschlüssel anwenden.

Abstinenzorientierte Therapie und Prävention

Doch wie kann den Menschen geholfen werden, in einer Zeit, in der das Internet für viele Erledigungen, wie zum Beispiel Fahrkartenkäufe, schlicht benötigt wird? Laut Wölfling mit einer sogenannten abstinenzorientierten Therapie.

„Das ist eine Therapie, die den Fokus darauf legt, frei von der Problemapplikation zu werden - nicht aber vom gesamten Internet und der Internetnutzung."

Logos verschiedener Sozialer Netzwerke sind auf dem Display eines Smartphones zu sehen.
Täglich verbringen viele Menschen Stunden ihrer Zeit in Sozialen Netzwerken. In der Pandemie stieg die Nutzungsdauer gerade auch in der Altersgruppe über 30 Jahren an.

Wichtig sei aber auch die Prävention, rät der Psychotherapeut. Jeder von uns brauche Ruhephasen für die gesundheitliche und seelische Balance - und das für sich selbst umzusetzen, sei eine der wichtigsten Aufgaben im digitalen Zeitalter.

Auf jeden Fall sollten Betroffene professionelle Hilfe suchen - etwa in einer Suchtberatung oder bei einem Arzt oder Psychologen.

"Es sollte eine Einschätzung erfolgen, ob wir es noch mit problematischem oder schon mit Suchtverhalten zu tun haben."

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