Zehn Jahre nach Einführung der Patientenverfügung ist vielen Deutschen unklar, wie sie rechtlich gültig ihren Willen über das eigene Sterben formulieren sollten. So kommt es immer wieder vor, dass Kliniken und Pflegedienste schriftlich fixierte Wünsche von bewusstlosen Patienten umgehen. Eine Horrorvorstellung. Der Bundesgerichtshof hat deshalb im April 2019 betont, dass vage formulierte Verfügungen ihre Gültigkeit verlieren.
Durchgesetzt hat sich in Deutschland der Vorschlag mit der unkompliziertesten Regelung:
- keine Beratungspflicht
- keine zeitliche oder inhaltliche Begrenzung
- kein bürokratischer Aufwand. Es genügt ein Blatt Papier mit eindeutigen Vorgaben, unterschrieben und datiert
Laut einer Umfrage des Deutschen Hospiz- und Palliativverbandes aus dem Jahr 2017 haben über 40 Prozent der Deutschen eine Patientenverfügung.
Kritik am Standardformular für Patientenverfügung
Fachleute sehen die typischen Standardformulare, die als Anleitung gedacht sind, kritisch. Man schreibt dort in eigenen Worten seine Wünsche und Vorstellungen nieder.
Gut formulierte Patientenverfügungen sind aber gerade in der Neurochirurgie extrem wichtig. Dort geht es um Verletzungen oder Blutungen, die das Gehirn unwiederbringlich schädigen. Die Patienten werden dann zum Schwerstpflegefall.
Medizinischen Laien fehlt Fachwissen
Ärzte sind verpflichtet, sich an die exakten Formulierungen einer Verfügung zu halten. Laien dagegen überschätzen meist die medizinische Aussagekraft einer Verfügung. Den meisten Verfassern einer Patientenverfügung fehlt es für solch weitreichende Entscheidungen am nötigen Detailwissen.
Von den jährlich 400.000 künstlich beatmeten Intensivpatienten erleiden nur etwa 1.000 Betroffene ein dauerhaftes Koma. Schon deshalb haben die üblichen Patientenverfügungen in der Praxis kaum Relevanz. Studien zeigen zudem: Mit oder ohne Verfügung wird auf der Intensivstation genauso lange beatmet, künstlich die Niere ersetzt oder das Herz unterstützt. Nicht, weil die Verfügungen systematisch missachtet werden. Sondern weil sie nicht gültig sind.
Ärzte und Ärztinnen wünschen sich daher klare Aussagen in den Patientenverfügungen. Denn Patientenverfügungen sind nur dann hilfreich, wenn professionell beraten wurde.
Patienten brauchen professionelle Beratung
Wer aber könnte sachkundig und persönlich aufklären? Der Hausarzt kennt in der Regel Patient und Angehörige über einen längeren Zeitraum. Doch leiden Hausärzte unter notorischem Zeitmangel. Und lange Gespräche über Patientenverfügungen können sie nicht adäquat abrechnen.
Beratungsangebote fehlen – aus Kostengründen
Niedrigschwellige, flächendeckende Beratungsangebote fehlen. Auf sie hat der Gesetzgeber bei der Einführung der Patientenverfügung bewusst verzichtet. Das Gesetz sollte den Bürgerinnen und Bürgern keine Kosten verursachen. Ein schwerer Fehler, wie sich im Nachhinein herausstellt.
Schweiz investiert in umfassendes Konzept
„Advance Care Planning“ nennt sich die Idee aus der Schweiz, Menschen am Lebensende mit professionellen Helfern beizustehen. Die beraten nicht nur über die Patientenverfügung, sonder beziehen auch Angehörige und den Hausarzt in die schwierigen Gespräche mit ein. Und selbst die Palliativversorgung wird von den Profis im Voraus geplant. In der Schweiz verdrängt dieses Konzept gerade die klassische Patientenverfügung.
Die speziell ausgebildeten Berater können über Heime, Kliniken und Ärzte von den Betroffenen kontaktiert werden. Als freiwilliges Angebot natürlich. In ausführlichen Gesprächen wird geklärt, was passieren soll, wenn die letzten Stunden nahen. Was in der Patientenverfügung steht, wird auch mit den Angehörigen und dem Heimpersonal besprochen. Alle müssen Bescheid wissen.
Die Schweiz ist zu dieser teuren Investition in einen guten Lebensabend ihrer Bürgerinnen und Bürger bereit. In Deutschland dagegen gibt es nur vereinzelte Modellprojekte. Es hapert an den Finanzen und den Zuständigkeiten.
Die Sterbephase bleibt in Deutschland weiterhin ein Weg ins Ungewisse. Mit und ohne Patientenverfügung.
SWR 2019
Ethik Sterbefasten – Nichts essen und trinken bis zum Tod
Wenn die Schmerzen unerträglich werden und keine Aussicht auf Besserung besteht, entscheiden sich manche Menschen dafür, auf Essen und Trinken zu verzichten. Sie wollen sterben.