Winston Churchill (1874 - 1965) gilt als einer der größten und umstrittensten Politiker des 20. Jahrhunderts. Er motivierte die Briten zum entschlossen Kampf gegen Hitler und hoffte auf die "Vereinigten Staaten von Europa". Doch sein Charakter und manche rassistische Äußerung bietet auch viel Anlass für Kritik.
Rassismus-Vorwürfe gegen Churchill
Juni 2020: Bei den #BlackLivesMatter- und Anti-Rassismus-Demonstrationen in London beschmierten Demonstranten das Churchill-Denkmal in der britischen Hauptstadt. Sie werfen dem ehemaligen Premierminister Rassismus vor.
"Dieser Vorwurf kommt von Historikern und Publizisten, die sich mit Churchills Rolle in der bengalischen Hungersnot beschäftigt haben", erklärt Churchill-Biograph Peter Alter. 1943 starben an dieser Hungersnot nach Schätzungen rund 3 Millionen Menschen. "Da wurde gesagt, dass Churchill ganz bewusst die Lebensmittelvorräte, die es auf dem indischen Subkontinent gab, nicht freigegeben habe, um den hungernden Menschen zu helfen." Alter erklärt diese Entscheidung Churchills jedoch primär mit der politischen Situation. "Dass er kein Befürworter war, den Indern sofort zu helfen, umfassend zu helfen, ist klar. Sein Hauptinteresse galt dem europäischen Kriegsschauplatz."
Allerdings, räumt Alter ein, gebe es in dem Zusammenhang auch "wenig schmeichelhafte" Zitate Churchills. So bezeichnete er die Inder als "tierischstes Volk nach den Deutschen" und äußerte sich abwertend über Schwarze und "Menschen mit Schlitzaugen".
Aus Sicht von Peter Alter passen diese Zitate allerdings nicht zum sonstigen Bild Churchills. "Das ist viel zu radikal" – denn es gab umgekehrt auch Situationen, in denen er die Grausamkeit der britischen Armee auf anderen Kontinenten anprangerte.
Wer war Winston Churchill?
Winston Leonard Spencer Churchill ist ein Kind des britischen Hochadels. Geboren wird er am 30. November 1874 in Blenheim Castle in der Nähe von Oxford, dem opulenten Stammsitz seiner Vorfahren, der Herzöge von Marlborough. Seit John Churchill, einem militärischen Genie des 18. Jahrhunderts, waren die Churchills in der britischen Geschichte nicht mehr besonders aufgefallen.
Winstons Vater Lord Randolph dagegen ist Ende des 19. Jahrhunderts ein bedeutender Politiker der Konservativen – und Finanzminister. Sein Sohn Winston ist sensibel und verletzlich. Wie alle Angehörigen der britischen Oberschicht muss er eine private Internatsschule besuchen. Dort gehören Prügelstrafen zur Erziehung. Winston Churchill schreibt in seiner Autobiographie über seine Schulzeit:
Churchill – ein missratener Sohn?
Die schulischen Leistungen Winston Churchills sind katastrophal. Doch in zwei Fächern glänzt der Einzelgänger: in Geschichte und englischer Literatur. Sie werden zu bestimmenden Elementen seines Lebens. Als er mit Ach und Krach den Abschluss schafft, ist der Vater zunächst ratlos, was er mit dem missratenen Sohn machen soll.
Er wird ein leidenschaftlicher Soldat und glühender Verfechter des Britischen Empire, das Ende des 19. Jahrhunderts seine größte territoriale Ausdehnung erreicht. Bei seinen Kameraden gilt der junge Offizier als hilfsbereit und geradezu sentimental – aber auch als trinkfreudig, draufgängerisch und jähzornig. 1896 hält sich im Sudan ein muslimischer Staat unter der Führung eines Mahdis, eines selbsternannten Heilsbringers. Er entstand aus der ersten erfolgreichen Rebellion einer afrikanischen Bevölkerungsgruppe gegen den Kolonialismus und bedroht auch das unter britischer Verwaltung stehende Ägypten.
Kriegsberichterstatter Churchill
Als ein Expeditionskorps gegen die Dschihadisten zusammengestellt wird, meldet sich Winston Churchill freiwillig zu diesem Feldzug – obwohl er zu diesem Zeitpunkt bereits an einer Kampagne gegen Rebellen in Afghanistan teilnimmt. Mit Erlaubnis der Armee berichtet er über beide Kriege für britische Zeitungen. Doch in seinen Artikeln liefert er der Öffentlichkeit nicht das heldenhafte Bild, das sie gerne sehen will, erzählt Churchill-Biograph Peter Alter. Winston Churchill beschreibt stattdessen die Grausamkeit der britischen Armee gegen die sudanesischen Muslime ebenso schonungslos wie die Arroganz des Oberbefehlshabers Horatio Herbert Kitchener.
Als Winston Churchills Artikel 1899, ein Jahr nach Niederschlagung des Aufstandes, als Buch herauskommen, wird es sein erster Bestseller in einer langen Reihe schriftstellerischer Erfolge. Den Beginn seiner politischen Karriere bildet der Burenkrieg im Süden Afrikas, an dem er als Kriegsberichterstatter teilnimmt.
Medienstar Churchill
Churchill gerät in Gefangenschaft, wird aber durch eine spektakuläre Flucht über Mosambik in seiner Heimat zum Kriegshelden und Medienstar. Der 25-Jährige entschließt sich, diese Popularität zu nutzen und Politiker zu werden. Im Jahr 1900 wird er zum ersten Mal als Mitglied der Konservativen Partei ins britische Unterhaus gewählt. Er ist der jüngste Abgeordnete – und wird über sechzig Jahre diesem Haus angehören.
Dieser Gentleman, der bis zu einer schweren Schulterverletzung leidenschaftlich Polo und Tennis spielt, der ellenlange Passagen englischer Lyrik oder historischer Werke rezitieren kann, wird im britischen Parlament schnell als Haudegen und Heißsporn bekannt. Seine Reden sind gefürchtet und oft von beißendem Spott gegen den politischen Gegner. Ein leichtes Lispeln bekämpft er mit diszipliniertem Sprechtraining – vergisst es aber schnell, wenn er in Rage gerät. Winston Churchill fühlt sich im Unterhaus wie der Fisch im Wasser.
Skandal des Wechsels
Er ist ausgesprochen ehrgeizig. Nur vier Jahre nach seiner ersten Wahl unternimmt Churchill einen Schritt, der zur damaligen Zeit ein Skandal ist: Er wechselt von den Konservativen zu den Liberalen. Der Wechsel lohnt sich: Ab 1906 wird Winston Churchill nacheinander stellvertretender Kolonialminister, Leiter des Wirtschaftsressorts und Innenminister. Finanziell lebt er über seine Verhältnisse und bewegt sich ständig am Rand der Pleite, zumal der britische Staat seinen Parlamentariern keine Diäten zahlt. Er ist ein Meister der Selbstinszenierung, dem das Image des Rabauken gefällt. Dazu gehört auch, dass nahezu ununterbrochen eine Zigarre zwischen seinen Lippen klemmt.
Seinen aufwendigen Lebensstil mit Koch, Chauffeur und Butler finanziert er durch Vorträge und das Schreiben. Als er 1908 Clementine Hozier heiratet, eine engagierte Streiterin für Frauenrechte, mit der er fünf Kinder haben wird, hat er bereits acht zumeist historische Bücher geschrieben, darunter eine Biographie seines 1895 verstorbenen Vaters Lord Randolph Churchill.
Winston Churchill ist ein liebevoller Vater und Ehemann, seine Kinder nimmt er oft mit ins Parlament, sie sind die einzigen, die ihn in seinem Büro stören dürfen. Als er mit den Jahren immer mehr an Gewicht zulegt, wird er von seiner Frau und den Kindern zärtlich "pug" genannt – Mops.
Erneuter Wechsel
Unter dem Eindruck der Oktoberrevolution in Russland 1917 wandelt sich der einst liberale Politiker Winston Churchill zum antisozialistischen Hardliner. 1924 wechselt er erneut die Partei und wird wieder Abgeordneter der Konservativen und Finanzminister unter Premier Stanley Baldwin. Doch die britische Arbeiterpartei Labour wird in diesen Jahren immer stärker und stellt 1929 den Regierungschef. Damit beginnt eine zehnjährige Phase ohne politisches Amt für Churchill. Er durchlebt Perioden tiefster Depression, die er den "schwarzen Hund" nennt, aber auch eine Zeit reger publizistischer Tätigkeit.
Wie verhängnisvoll die Appeasement-Politik des Premiers Neville Chamberlain ist, zeigt sich am 1. September 1939: Die Wehrmacht überfällt das mit Frankreich und Großbritannien verbündete Polen. Als das britische Empire zwei Tage später Deutschland den Krieg erklärt, wird gleichzeitig ein neues Kabinett gebildet, mit Winston Churchill erneut als "First Lord of the Admiralty". Im Eiltempo modernisiert er die Flotte, denn er weiß, dass Großbritannien für einen Krieg gegen das hochgerüstete Deutschland nicht stark genug ist. Als die Wehrmacht am 10. Mai 1940 Frankreich angreift, wird Churchill Premierminister einer Allparteienregierung. Er ist Realist genug, um zu wissen, dass die Existenz Großbritanniens auf dem Spiel steht.
Ansprache gegen Angst
Im Mai und Juni 1940 kämpfen britische Truppen in Frankreich. Als die Niederlage immer absehbarer wird, schaffen es die Briten zwar in einer beispiellosen Gemeinschaftsanstrengung, ihr bei Dünkirchen eingeschlossenes Expeditionskorps mit Privatbooten und Fischkuttern aus Frankreich zu evakuieren. Doch es ist klar, dass das nächste Ziel der Nazis die britischen Inseln sein werden. In dieser Situation höchster Bedrohung wächst Winston Churchill über sich hinaus. In einer bewegenden Rundfunkansprache ruft er seine von Angst gelähmten Landsleute auf, vor der Hitler-Tyrannei nicht in die Knie zu gehen, sondern ihr die Zähne zu zeigen.
Am 11. September 1940 spricht Winston Churchill von seinem unterirdischen Büro- und Wohnraum über den Sender BBC zu den Briten. Langsam aber stetig werden die Verluste der deutschen Luftwaffe höher als die der Royal Air Force und Churchill warnt vor einer bevorstehenden Großoffensive.
Winston Churchill: Erfinder des "Eisernen Vorhangs"
Vier Tage später, am 15. September 1940, zeigt sich, wie recht Churchill hat: Mit einem Großangriff, der am frühen Morgen beginnt, wollen die Nazis London dem Erdboden gleichmachen und Großbritannien zur Kapitulation zwingen. Die Luftkämpfe dauern den ganzen Tag. Am Abend sind die Verluste der Deutschen Luftwaffe so immens, dass Hitler den Plan einer Landung in Großbritannien aufgibt. Die Gefahr einer deutschen Invasion ist endgültig gebannt.
Am 8. Mai 1945 endet der Zweite Weltkrieg in Europa. Vom Balkon des Londoner Buckingham Palace verkündet Premierminister Winston Churchill in Anwesenheit der königlichen Familie die bedingungslose Kapitulation Nazi-Deutschlands.
Als Winston Churchill 1951 erneut Premierminister wird, ist die Teilung Europas in einen kommunistischen und einen demokratischen Block in vollem Gange. Er hatte dies bereits in einer Rede 1946 vorausgesehen, als er das geflügelte Wort von einem "Eisernen Vorhang" zwischen Ost und West prägte. Nun will er seine Landsleute überzeugen: Der Westen braucht die junge Bundesrepublik Deutschland als zuverlässigen Verbündeten gegen die Sowjetunion und ihre Satellitenstaaten.
1955 tritt Winston Churchill vom Amt des Premierministers zurück, bleibt aber dem Unterhaus als Abgeordneter erhalten. Als er 90-jährig am 24. Januar 1965 stirbt, verliert Europa einen seiner größten und couragiertesten, aber auch umstrittensten Staatsmänner. Denn stromlinienförmig war Winston Churchill nie zu haben.
2018 wurde seine Zeit als britischer Premierminister im Film "Die dunkelste Stunde" verfilmt.
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