Mindestens 70.000 Menschen gelten in Mexiko als verschwunden. Immer öfter trifft es Migranten und Flüchtlinge. Im Schnitt verschwinden 30 pro Tag.
In Zwangsarbeit und Prostitution gezwungen – oder ermordet
Kriminelle Banden betreiben in Mexiko ganze Lager für entführte Migrantinnen und Migranten: Menschen, die aus Zentralamerika, auch aus Guatemala und El Salvador vor Gewalt und Perspektivlosigkeit fliehen – und von einem besseren Leben in den USA träumen. Wer sich nicht als Drogenkurier rekrutieren oder in Zwangsarbeit oder Prostitution zwingen lassen will, oder dessen Familienangehörige kein Lösegeld bezahlen können oder wollen, wird umgebracht.
Kriminelle Banden müssen in Mexiko kaum Konsequenzen befürchten
Aber viele dieser Entführungen, so Sofía de Rubina, geschähen unter den Augen mexikanischer Behörden. Rubina arbeitet beim renommierten Menschenrechtszentrum Centro Prodh in Mexiko. Hinzu kommt: Kaum ein Gewaltverbrechen wird in Mexiko aufgeklärt.
Täter müssen also kaum Konsequenzen befürchten, sagt auch Irene Tello, die Präsidentin von Impunidad Cero, einer NGO, die gegen die Straflosigkeit in Mexiko kämpft. Die Anzeigeerstattung ist eine bürokratische Tortur und nur 15 Prozent der wenigen angezeigten Fälle werden gelöst, so Irene Tello. 90 Prozent der Kapitalverbrechen gehen in Mexiko am Ende straflos aus.
Politik und Sicherheitskräfte – verstrickt ins organisierte Verbrechen
Vor allem ein Fall hat mexikoweit und international für einen Aufschrei gesorgt: Im Jahr 2014 "verschwanden" in der Stadt Iguala, im Bundesstaat Guerrero, 43 Studenten der Fachhochschule von Ayotzinapa. Für die Behörden war der Fall damals sehr schnell klar: Dem korrupten Bürgermeister von Iguala waren die Studenten auf der Durchreise durch seine Stadt ein Dorn im Auge gewesen.
So habe er die örtliche Polizei auf die Studenten angesetzt und sie dann der kriminellen Organisation Guerreros Unidos übergeben, die sie auf einem Müllplatz in der Nähe verbrannt und die Reste in einen Fluss geworfen haben sollen. Wo die Leichname der Studenten sind, ist bis heute nicht aufgeklärt worden. Bis heute demonstrieren die Angehörigen.
Von Calderón bis López Obrador: Militarisierung nimmt weiter zu
Als Ursprung der exzessiven Gewalt in Mexiko gilt die Präsidentschaft von Felipe Calderón von 2006 bis 2012. Calderón erklärte den mächtigen mexikanischen Drogenkartellen den Krieg, schickte die Armee auf die Straße, um das organisierte Verbrechen zu bekämpfen. Dies hatte verheerende Konsequenzen: Wo die Armee einschritt, berichten Anwohner von exzessiver Gewalt. Zusammenstöße mit den Kartellen haben immer wieder zivile Opfer gefordert.
Die Militarisierung hat der heutige Präsident Mexikos, Andrés Manuel López Obrador, nicht etwa gestoppt, sondern ausgebaut: Die als korrupt verschriene zivile Bundespolizei wurde aufgelöst und zusammen mit Armeeeinheiten in einer neuen, recht martialischen Nationalgarde zusammengefasst. Und aus seinem Versprechen vor und am Beginn seiner Amtszeit, eine humanere Migrationspolitik durchzusetzen, folgte schnell die 180-Grad-Wende - auf Druck des damaligen US-Präsidenten Donald Trump.
Menschen in Gruppen auf dem Weg durch Zentralamerika zur US-Grenze
Auf dem Weg durch Mexiko haben Migranten und Flüchtlinge auf ihrem Weg Richtung USA darum zwei mächtige Feinde: Die Kartelle und die Sicherheitsorgane. Deshalb ist es sicherer, sich nicht allein auf den Weg zu machen, sondern in Karawanen. Seit 2018 machen sich tausende Menschen gemeinsam auf: durch Zentralamerika, über die Grenze nach Mexiko, durch Mexiko bis zur US-Grenze.
Seit Jahren zählt Honduras beispielsweise zu den Ländern mit den höchsten Mordraten weltweit. Hinzu kommt die überbordende Korruption. Geld, auch schmutziges, regiere Honduras, sagt der Menschenrechtsanwalt Ramón Enrique Barrios, und das habe Folgen. Laut Barrios trage eine extrem ungleiche Verteilung des Reichtums zu den extrem hohen Gewaltraten bei. Für junge Menschen ohne gute Ausbildung bliebe nur die Wahl zwischen das Land verlassen oder sich Kriminellen anschließen, so Barrios.
Das indigene Guatemala ist bitterarm
Guatemala, Mexikos südlicher Nachbar, ist eigentlich gesegnet: fruchtbare Böden, Bodenschätze und eine besonders reiche, indigene Tradition. Doch gerade das indigene Guatemala ist bitterarm. Von der Politik werden Guatemalas Indigene auch über 500 Jahre nach der spanischen Eroberung vernachlässigt und ausgegrenzt.
Honduras, Guatemala und El Salvador sind seit den Zeiten des kalten Krieges Verbündete der USA. Kritiker sagen, ihre Politik- und Wirtschaftseliten seien Washington hörig. Sie haben Freihandelsabkommen mit dem mächtigen Nachbarn geschlossen und Militärkooperationen. Dafür dürfen sich reiche Zentralamerikaner zum Beispiel in Miami medizinisch behandeln lassen.
Kamala Harris warnt Flüchtlinge: nicht an die amerikanische Grenze kommen!
Nun sind vier Jahre Donald Trump Geschichte, Joe Biden hat eine Neuausrichtung der Migrationspolitik in Aussicht gestellt, eine menschlichere. Das macht vielen Migranten trügerische Hoffnung: Seit Jahresbeginn nahm die US-Grenzpolizei mittlerweile über eine Million Menschen fest, die höchste Zahl in mehr als zwei Jahrzehnten.
Vizepräsidentin Kamala Harris reiste deswegen erst Anfang Juni 2021 nach Guatemala und Mexiko. In Guatemala-Stadt warnte sie eindringlich, nicht an die amerikanische Grenze zu kommen, denn die Priorität der amerikanischen Politik sei es, illegale Migration abzuschrecken, so Harris.
USA ohne klares Konzept für die Bekämpfung der Fluchtursachen
Immerhin spricht Kamala Harris die Fluchtgründe an: Die fehlenden Perspektiven, die Armut, die Gewalt, die Korruption in den Herkunftsländern. Aber es bleibt unklar, ob und wie die USA Hilfe leisten und wirksamen Druck auf ihre traditionellen Verbündeten, die reichen Eliten in Guatemala, Honduras und El Salvador aufbauen will, um die Fluchtursachen ernsthaft zu bekämpfen.
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Dieses Feature senden wir am „Internationalen Tag der Verschwundenen“.