Atomkraftwerk-Großanlage bei Tschernobyl in der Nähe von Kiew defekt
In der RIAS Rundschau am Mittag des 29. April 1986 versuchte Moderatorin Christine Rackuff mit ihrem Gesprächspartner Harro Zimmer Aufklärungsarbeit zu leisten. Die Informationen aus der Sowjetunion kamen nur spärlich an. Harro Zimmer vermutete zunächst, dass "Schlimmeres passiert sein muss". Nach Angaben der Korrespondenten in Kopenhagen, Warschau und Moskau, wie auch des Experten des Hahn-Meitner-Instituts in Berlin, schien die Wolke harmlos zu sein.
Skandinavien: Atomwolke löst sich langsam auf
In der ersten Schalte mit Reinhold Dey in Kopenhagen gab der Korrespondent Entwarnung. Man entzittere sich langsam in den skandinavischen Ländern, so Dey. Gleichzeitig werde die Kritik an der Informationspolitik der Sowjetunion lauter. Schweden und Dänemark protestierten heftig gegen diese "Schlamperei" und forderten den Aufbau eines Benachrichtigungssystems.
BRD: Zur radioaktiven Strahlung in der Berliner Luft
In einem Telefon-Interview kommt auch Entwarnung aus Berlin. Thomas Robertson vom Hahn-Meitner-Institut in Berlin (heute Helmholtz-Gemeinschaft Deutscher Forschungszentren e.V. ) hat keine Hinweise auf eine radioaktive Belastung der Luft in Deutschland. Der Wissenschaftler beruhigt: "Und es ist auch nicht zu erwarten, dass wir Messwerte bekommen, die Radioaktivität aus dem Kernkraftsunfall in der Sowjetunion nach Berlin bringen." Die gemessenen radioaktiven Werte lägen bisher in dem Bereich, der auch in der Natur vorkommt.
Polen: Der Nordosten von radioaktiver Wolke überquert
In der zweiten Auslandsschalte berichtete der Kollege Friedrich Wilhelm Kramer aus Warschau, dass auch in Polen keine Werte gemessen wurden, die für Menschen gefährlich werden könnten. Trotzdem habe die Regierung eine Sonderkommission eingesetzt, deren Aufgabe es sei, Messungen radioaktiver Strahlung ständig zu bewerten und die Lage zu analysieren. Diese Sonderkommission, so Kramer, würde normalerweise nur bei ernsten Zwischenfällen eingesetzt, die Gefahr sei noch nicht vorbei.
Im polnischen Żarnowiec hatte man 1982 mit der Errichtung eines Atomkraftwerks begonnen. Proteste gegen den Bau von Atomkraftwerken hatte es bis zum Gau in Tschernobyl in Polen nie gegeben, nach dem Unglück stieg der Widerstand. Die Regierung gab das Vorhaben 1990 auf.
UdSSR: Bevölkerung der UdSSR bleibt uninformiert
BR-Korrespondent Johannes Grotzky berichtete aus Moskau, dass in Kiew, 130 km südlich von Tschernobyl, kein Ausnahmezustand herrsche. Das Stadtbild sei ruhig:
"Eine Reaktion vom Außenministerium liegt im Moment noch nicht vor. Angaben über Ausmaß und Ursache des Unglücks sind deshalb nicht möglich. Die sowjetische Presse meldet heute das Unglück mit keiner Zeile. Die kurze TASS-Meldung ist bislang nirgends nachgedruckt. Auch die Rundfunknachrichten sind, soweit überschaubar, noch nicht auf das Unglück eingegangen."
Erst im vergangenen Jahr hatte die Sowjetunion ein Abkommen mit der internationalen Atomenergiebehörde in Wien unterzeichnet. Damit sei sie auch eine Meldepflicht über Störungen im normalen Betrieb der Atomkraftwerke eingegangen. Dass sich sowjetische Behörden mit der Information landeseigener Katastrophen zurückhalte, sei typisch, so Johannes Grotzky.
Harro Zimmer zur Schwere des Reaktor-Unglücks
Noch, so Harro Zimmer, sei es zu früh, den Super-Gau, den größtmöglichen Unfall in einem Kernkraftwerk, anzunehmen. Nach genauer Betrachtung der gegenwärtigen Situation fiele ihm in der gesamten Geschichte der friedlichen Nutzung der Atomenergie kein vergleichbares Beispiel ein. Denn im Gegensatz zum Kraftwerksunfall in Harrisburg sehe es beim Kernkraftunfall in Tschernobyl danach aus, dass der Reaktorkern möglicherweise durchgebrannt und aufgebrochenes Material in die Umgebung entwichen sei.
Quelle: RIAS: Rundschau am Mittags vom 29.4.1986
Im Bild: Eine Spezialistin des Warschauer Instituts für Meteorologie und Wasserkontrolle entnimmt am Dienstag, 29. April 1986, in Warschau Luftproben, um die Strahlung einer radioaktiven Wolke zu testen, die nach dem Unfall im Kernkraftwerk Tschernobyl über Polen hinwegging
Atomkatastrophe von Tschernobyl
28.4.1986 Das Reaktorunglück in Tschernobyl wird bekannt
28.4.1986 | Am 26. April 1986 explodierte um 1.24 Uhr Ortszeit einer der vier Reaktorblöcke im Kernkraftwerk Tschernobyl nahe dem Ort Prypjat in der Ukraine. Bei der Explosion wurden radioaktive Stoffe rund 1.200 Meter hoch in die Luft geschleudert. Drei großen Wolken verteilten die radioaktiven Partikel in den darauffolgenden Tagen über Europa. Die Öffentlichkeit war bis zum Abend des 28. April 1986 ahnungslos.
29.4./7.5.1986 Berichterstattung über das Reaktorunglück in Tschernobyl in der DDR
29.4./7.5.1986 | Auch die Medien in der DDR berichteten über die Reaktorkatastrophe in Tschernobyl. Zunächst die Erklärung des Sprechers des Staatlichen Amts für Atomsicherheit und Strahlenschutz in der DDR vom 29. April 1986. Es folgt ein Gespräch der DDR-Wissenschaftler Prof. Dr. Günther Flach und Prof. Dr. Karl Lagius im Radio DDR am 30. April 1986. Beide Wissenschaftler können die Kritik an der Sowjetunion nicht nachvollziehen. Sie sehen darin eine üble Hetzkampagne des Westens. Anschließend ein Kommentar vom 2. Mai 1986 von Klaus Dieter Kröber zur Berichterstattung der westlichen Medien. Und schließlich die Nachrichten des Berliner Rundfunks vom 7. Mai 1986. Es geht darin um die Absage eines Jugendaustauschs; eine Gruppe Jugendlicher aus Baden-Württemberg hatte die DDR besuchen wollen.
6.5.1986 Was darf man nach Tschernobyl noch essen? Live-Sendung aus Schifferstadt
6.5.1986 | In den zwei Wochen nach der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl war die Verunsicherung groß. Was kann die Giftwolke anrichten? Es wurde davor gewarnt, bei Regen rauszugehen oder Kinder im Sandkasten spielen zu lassen. Auch Salat und Blattgemüse sollten lieber nicht gegessen werden. Und dann war ja gerade Spargelzeit – darf der Spargel geerntet und verkauftet werden? Am 6. Mai 1986 brachte der Südwestfunk eine Live-Sendung aus Schifferstadt, in der Hörerinnen und Hörer ihre Fragen stellen konnten.
14.5.1986 Bundestagsdebatte zu Tschernobyl und Atomkraft
14.5.1986 | Die Reaktorkatastrophe von Tschernobyl ist am 14. Mai 1986 Thema im Bundestag. Die Debatte ist für 2 Stunden angesetzt und dauert mehr als doppelt so lang. Sie zeigt, welche Zäsur das Ereignis bedeutete. Auf der einen Seite Union und FDP, die sich durch Tschernobyl nicht davon abbringen ließen zu beteuern, dass in Deutschland die sichersten Atomkraftwerke der Welt stehen und sich auch sonst Umweltprobleme am besten mit Technik lösen lassen – Helmut Kohl spricht gar von umweltfreundlichen Autos. Er meint die mit Katalysatoren. Auf der anderen Seite die Grünen, die sich durch Tschernobyl in ihrer Anti-Atom-Haltung bestätigt sehen, und die SPD, die, wie die Rede des damals noch jungen Gerhard Schröder zeigt, nun auch auf diesen Kurs einschwenkt. | Helmut Kohl: 01:22
14.5.1986 Stellungnahme von Gorbatschow nach dem Reaktorunglück in Tschernobyl
14.5.1986 | In der ersten öffentlichen Stellungnahme der Sowjetunion nach dem Reaktorunglück in Tschernobyl reagierte Michail Gorbatschow auf die Kritik des Westens. Er forderte zur internationale Zusammenarbeit in Kernenergiefragen auf.
18. und 19.5.1986 Demonstration gegen die Wiederaufarbeitungsanlage in Wackersdorf
18./19.5.1986 | An Pfingsten 1986 demonstrieren Zehntausende gegen den Bau der Wiederaufarbeitungsanlage in Wackersdorf. Der Rundfunkjournalist Ulrich Böken war mit dem Mikrofon vor Ort. Sein Rohmaterial zeichnet ein Stimmungsbild der Demonstranten im Taxöldener Forst. | Kernenergie
4.6.1986 Erster Bundesumweltminister: Walter Wallmann vor Amtsantritt im Interview
4.6.1986 | Infolge des Reaktorunglücks von Tschernobyl in der Sowjetunion schuf die Bundesregierung eine neue Behörde: das Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit. Erster Bundesumweltminister wurde Walter Wallmann (1932 - 2013) von der CDU. Ein Interview im Hessischen Rundfunk vom 4. Juni 1986.
12.12.1986 Psychoanalytiker Horst-Eberhard Richter: Umgang mit der Angst nach Tschernobyl
Am 12.12.1986 gab der Psychoanalytiker Horst-Eberhard Richter ein Interview im NDR. Er sprach über den Umgang mit der Angst nach der Reaktorkatastrophe. Er warnte vor dem Glauben, alle Gefahren mit dem Fortschritt der Technik beherrschen zu können.
8.5.1996 In Gorleben eskalieren Castor-Demonstrationen: Statements von Angela Merkel und Jürgen Trittin
8.5.1996 | 1995 rollte der erste Castor-Transport ins Zwischenlager Gorleben. Der Atommüll kam damals vom Kernkraftwerk Philippsburg bei Karlsruhe. Schon gegen diesen ersten Castor-Zug gab es Proteste, sie waren noch vergleichsweise gemäßigt. Im Folgejahr änderte sich. Es ist der 8. Mai 1996 – die Reaktorkatastrophe von Tschernobyl liegt ziemlich genau 10 Jahre zurück. Die Stimmung ist aufgeheizt, als nun die ersten Atommüllbehälter aus der französischen Wiederaufbereitungsanlage La Hague in Gorleben ankommen. 19.000 Polizisten sichern den Transport. Wir hören ein Statement der damaligen Umweltministerin Angela Merkel (CDU) und vom Grünen Jürgen Trittin. Doch zunächst der Bericht von den Ausschreitungen. | Kernenergie