Klassik-Klassiker zum Fest

Das Weihnachtsoratorium neu entdecken: Was steckt hinter Bachs Festtags-Opus?

Stand
Autor/in
Dominic Konrad
Dominic Konrad, Autor und Redakteur bei SWR Kultur und SWR Musik
Gespräch mit
Reinhard Goebel

Bachs Weihnachtsoratorium gehört zum Fest wie Stollen und Tannenbaum. Unter Bachs größeren Werken ist es heute das populärste und am häufigsten aufgeführte. Das Werk, das aus sechs Kantaten besteht, zu durchdringen, ist allerdings alles andere als einfach. Im Gespräch mit Dirigent und Bach-Experte Reinhard Goebel blicken wir auf dieses Standardwerk der Weihnachtszeit.

Johann Sebastian Bach komponiert das sechsteilige Werk für die sechs Gottesdienste zwischen dem 25. Dezember 1734 und dem Epiphanias-Gottesdienst am 6. Januar 1735. Die Aufführungen finden in den Kirchen St. Thomas und St. Nikolai in Leipzig statt.

Schneebedecktes Standbild Johann Sebastian Bachs vor der Thomaskirche in Leipzig.
Johann Sebastian Bach, hier schneebedeckt vor der Leipziger Thomaskirche, schreibt die sechs Kantaten des Weihnachtsoratoriums für die sechs Gottedienste zwischen dem ersten Weihnachtstag und dem Tag der Heiligen Drei Könige. Heute werden sie gerne in einem etwa zweieinhalbstündigen Konzert aufgeführt.

Bachs Weihnachtsoratorium ist heute das bekannteste, aber bei weitem nicht das einzige oder gar das erste seiner Art. Schon im 17. Jahrhundert entstehen erzählende Vertonungen der Weihnachtsgeschichte für den Gottesdienst, darunter die Weihnachtshistorie von Heinrich Schütz. Auch Gottfried Heinrich Stölzel und Georg Philipp Telemann komponieren Weihnachtsoratorien.

Nach Bachs Tod gerät das Oratorium in Vergessenheit. Der renommierte Musikwissenschaftler und Komponist Carl Friedrich Zelter holt Bachs handgeschriebene Originalpartitur im frühen 19. Jahrhundert nach Berlin. Dort wird das Oratorium 1857 zum ersten Mal seit über hundert Jahren wieder aufgeführt.

Jauchzet, frohlocket: Musikalisches Upcycling

Mit Pauken und Trompeten eröffnet Bach den ersten Teil des Oratoriums. Der Chor bejubelt die Geburt des Heilands mit einem freudigen „Jauchzet, frohlocket, auf, preiset die Tage“.

Der Eingangschor ist heute so untrennbar mit dem Werk verknüpft, dass man sich eigentlich gar nicht vorstellen möchte, dass Bach die Melodie tatsächlich gar nicht originär für das Oratorium geschrieben hat. Als Glückwunschkantate BWV 214 erklang sie noch mit anderem Text: „Tönet, ihr Pauken! Erschallet, Trompeten!“

Für Bach und seine Zeitgenossen ist an dieser Vorgehensweise auch nichts ungewöhnlich oder gar ehrenrührig. Bach überhöht die originale Komposition noch, indem er sie nochmals musikalisch nachschärft.

Als Komponist stört sich Bach nicht daran, weltliche Klänge in seine Kirchenmusik einzuarbeiten. So lässt er die Eröffnungschöre seines Oratoriums in der für 1734 hochmodernen Menuett-Form erklingen. Es ist die Musik der Straßen, die so am 25. Dezember 1734 erstmals von der Empore der Thomaskirche erklingt.

Darstellung der heiligen Familie im Stall mit Ochs und Esel in Sacro Monte di Varese
Maria bringt ihren Sohn Jesus in einer Krippe in Bethlehem zur Welt. Ochs und Esel begrüßen den Sohn Gottes.

Schmerzliche Hirtenmusik: Das Ende schwingt schon musikalisch mit

Die G-Dur-Sinfonia, mit der Bach in den zweiten Weihnachtsfeiertag startet, ist mit ihren Geigen, Traversflöten und Schalmeien eine Neukomposition. Nach der Geburt Jesu übersetzt Bach nun die Verkündigung an die Hirten in Musik.

Doch bei aller Freudigkeit über die Geburt des Heilands komponiert Bach auch herbe Dissonanzen in diese Sinfonia, wie Dirigent Reinhard Goebel erklärt. Bei allem weihnachtsseligen Freudentaumel: Wir alle wissen bereits, wie die Geschichte für Jesus ausgehen wird. Bei Bach klingt das dann schmerzlich-dissonant.

Die trübe Stimmung löst Bach dann wieder auf, wenn er in der Sopran-Arie den Engel singen lässt. Er komme dem Bedürfnis der Gläubigen nach etwas Kitsch nach, erklärt Bach-Experte Goebel.

Darüber hinaus bemerkenswert – so Goebel – ist die Tenorarie des Hirten. Grundsätzlich schreibe Bach für seine Tenorsolisten – immerhin vermutlich Thomaner, die frisch den Stimmbruch hinter sich gelassen hatten – generell die allerschwerste Partien, die er überhaupt komponiert habe.

Die Verkündigung an die Hirten durch den Engel von Cornelis Saftleven (1630 - 1650)
„Fürchtet euch nicht!“, ruft der Engel den Hirten zu und verkündet ihnen die frohe Botschaft von der Geburt Christi. Die Hirten machen sich daraufhi auf den Weg. Bei Bach singen sie enthusiastisch: „Lasset uns nun gehen gen Bethelehem“.

Herrscher des Himmels – Jubel in Mezzoforte

Während wir heute nur noch zwei Tage Weihnachten feiern, wurden zu Bachs Zeiten die hohen Festtage der Christenheit noch über drei Tage begangen. Bachs Musiker mussten also nach dem 25. und 26. auch am 27. Dezember zum Spielen antreten, und das gleich zweimal am Tag.

Entsprechend fällt der jubilierende Eröffnungschor „Herrscher des Himmels, erhöre das Lallen“ eher verhalten in Mezzoforte aus. Für das Stück bedient sich Bach wieder bei seinen Herrscherkantaten BWV 214. Die Vorlage erklang noch zum Text „Blühet, ihr Linden in Sachsen, wie Zedern“.

Dafür fordert Bach im Chor „Lasset uns nun gehen gen Bethlehem“ noch einmal die volle Aufmerksamkeit seiner Ensembles: Die Hirten machen sich auf den Weg, um das Jesuskind zu begrüßen – nicht etwa geordnet im Gleichklang zu Menuettschritten, sondern völlig kreuz und quer, mal in aufsteigenden und mal in absteigenden Tonfolgen.

Außerdem versteckt sich in diesem dritten Teil mit der Alt-Arie „Schließe, mein Herze, dies selige Wunder“ ein ganz persönliches Juwel: Bach, seines Zeichens ein begnadeter Geiger, hat hier ein bemerkenswertes Violinensolo einkomponiert. Für Experte Reinhard Goebel ein Kernstück der Kantate: „Es ist Bachs persönlichste Äußerung zu den drei Weihnachtsfeiertagen.“

Die Beschneidung Christi. Bild aus der Werkstatt von Giovanni Bellini (um 1500)
Am achten Tage nach der Niederkunft bringt Maria ihren Sohn in den Tempel, wo er nach jüdischer Sitte beschnitten wird. Das Fest der Beschneidung Christi fällt traditionell auf den Neujahrstag.

Fallt mit Danken, fallt mit Loben: Neujährliche Jesus-Minne

Erst am Neujahrstag 1735 setzt Bach das Weihnachtsoratorium mit der vierten Kantate fort. Liturgisch wird allerdings nicht das neue Jahr gefeiert, sondern das Fest der Beschneidung Christi. Diese soll laut Lukasevangelium am achten Tag nach der Niederkunft vollzogen worden sein.

Für den Eröffnungschor engagiert Bach zwei Hornisten – tatsächlich etwas Besonderes, denn Hörner waren in der Leipziger Ratsmusik nicht vorgesehen und wurden stark mit der weltlichen Musik des Königshofs assoziiert. Bach erinnert also erneut in musikalischer Form an die Ankunft des „Königs der Könige“.

In seiner Neujahrskantate geht Bach nur wenig auf den Evangelientext ein und schafft sich stattdessen eine eigene Sphäre von kompositorischem Anspruch, erklärt Reinhard Goebel. So etwa im Duett von Bass-Rezitativ und Sopran-Choral in „Immanuel, o süßes Wort“.

Bach greift hier auf ganz sinnbildliche Vertonungsweisen zurück. Wie Monteverdi im Madrigal „Tancredi e Clorinda” lässt er die Singenden musikalisch ihren Jesus „mit Lust umfassen“. Höchste Jesus-Minne, findet der Bach-Experte.

Eine katholische Nonne berührt in der Geburtsgrotte in Bethlehem unter dem Altar einen silbernen Stern im Marmorboden. Er trägt die Inschrift "Hic de Virgine Maria Jesus Christus natus est" (Hier wurde von der Jungfrau Maria Jesus Christus geboren).
Ein silberner Stern im Marmorboden der Geburtskirche von Bethlehem markiert die genaue Stelle, an der die Jungfrau Maria das Jesuskind geboren haben soll.

Ehre sei dir, Gott, gesungen: Majestätisch Richtung Dreikönigstag

Mit alter Pracht startet Bach in seine fünfte Kantate. In erhebendem A-Dur ertönt der Eröffnungschor „Ehre sei dir, Gott, gesungen“. Bach verwendet hier die altmodische kompositorische Figur der Noema: Über einen Dreiklang, der in Sequenzen immer wieder nach oben und unten geführt wird, drückt Bach rauschhafte Pracht und Majestät aus.

In dieser Kantate, die ursprünglich für den Sonntag zwischen Neujahr und dem Dreikönigstag geschrieben wurde, kündet Bach schließlich auch die Ankunft der Weisen aus dem Morgenland an. Bach und sein Textdichter haben, so Goebel, immer genau überlegt, „wie sie rote Fäden zwischen die einzelnen Stücke legen und sie miteinander verbinden“. 

Die drei Weisen aus dem Morgenland. Darstellung aus einer katalanischen Handschrift.
Drei Sterndeuter machen sich auf den Weg, um den neuen König zu begrüßen. Mit ihrer Ankunft vor dem Jesuskind, die am 6. Januar gefeiert wird, beschließt Bach das Weihnachtsoratorium.

Herr, wenn die stolzen Feinde schnauben: Mit Trompeten ins Finale

Und sie erschallen wieder, die Trompeten. Im Finale des Weihnachtsoratoriums, das erstmals zum Dreikönigstag 1735 erklang, schließt Bach mit brillierenden Trompeten im Eröffnungschor „Herr, wenn die stolzen Feinde schnauben“ eine Brücke zu der Eröffnung von Teil 1.

Goebel erkennt auch in der sechsten Kantate Bach als „den gestandenen Meister, der das Material im Griff hat“. Er zeigt, zu welchen Mitteln der Komponist greift, um manchmal auch bewusst plakativ die Worte in Töne zu setzen.

Doch für Goebel ist hier nicht alles Gold, was glänzt. Die Sopran-Arie „Nur ein Wink von seinen Händen“ ist seiner Meinung nach hochproblematisch. „Da fühlt man sich unter Umständen verschaukelt“, so der Alte-Musik-Fachmann. Es sei eher eine Tanzmelodie mit eingestreuten Gesangspartien als eine wirkliche Arie. Auch die Taktsetzung sei hier nicht ganz geglückt.

Zum Schluss tritt der Evangelist, der uns über sechs Teile die Heilige Schrift näherbrachte, aus der Rolle des Verkündigers und gibt sich in „So geht! Genug, mein Schatz geht nicht von hier“ als Teil der Gemeinde.

Dass Bach die sechs Kantaten tatsächlich als eine Einheit, ein „Oratorium“ gesehen hat, macht Goebel am letzten Rezitativ „Was will der Höllen Schrecken nun“ vor dem Schlusschor fest: Wie am Ende der Matthäuspassion vereinigen sich hier noch einmal alle vier Solisten. „Sie kommen von Norden, von Süden, Osten und Westen, hoch und tief und mittel und unten, und singen dann gemeinsam die letzten versichernden Worte ‚Da wir in Jesu Händen ruhn‘. Das ist so weltbewegend“, findet Goebel. 

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Dominic Konrad
Dominic Konrad, Autor und Redakteur bei SWR Kultur und SWR Musik
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Reinhard Goebel