Album-Tipp

Solide, aber mehr nicht: Yannick Nézet-Séguin dirigiert die Brahms-Sinfonien

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Autor/in
Christoph Vratz
Christoph Vratz
Künstler/in
Chamber Orchestra of Europe, Yannick Nezet-Seguin

Ob alle wichtigen Opern von Mozart, sämtliche Sinfonien von Beethoven, Mendelssohn und Schumann, ob Sibelius oder Bruckner – der Dirigent Yannick Nézet-Séguin hat sie alle eingespielt. Kein Wunder, dass der gefragte Kanadier jetzt die vier Sinfonien von Johannes Brahms erkundet hat. Das Ergebnis ist nicht immer zufriedenstellend.

Yannick Nézet-Séguin geht hier nicht aufs Ganze

Unerbittlich pocht die Pauke, dazu harmonische Reibungen bei den Bläsern und eine schneidende Melodie der Streicher – die neue Aufnahme macht diese Unterschiede am Beginn der ersten Sinfonie von Johannes Brahms gut hörbar. Aber sie macht auch klar: Dirigent Yannick Nézet-Séguin geht hier nicht aufs Ganze. Weder was die Intensität der Reibungen betrifft, noch das Tempo

Johannes Brahms hat in seinen Werken leider nur wenige Metronom-Angaben hinterlassen, zu seinen Sinfonien keine einzige. Als gesichert dürfte gelten, dass ihm allzu schwerfällige Tempi missfallen haben.

Nézet-Séguin und das Chamber of Europe wählen bei diesem ersten Satz ein gemäßigt zügiges Tempo, das den dramatischen Gestus abbildet und gleichzeitig Raum lässt für einige kammermusikalische Details. Dieser Ansatz findet sich erneut im langsamen Satz.

Nézet-Séguin dirigiert das BRSO mit Brahms' 3. Sinfonie

 Der Dirigent hält sich an Brahms' wenige Angaben

Wie bereits in der Einleitung zum ersten Satz, so verwendet Brahms auch im zweiten den Begriff „sostenuto“, was so viel bedeutet wie: getragen oder etwas breiter. Und genau diese Vorgabe beherzigt Nézet-Séguin, der auf diese Weise zeigen möchte, dass bei Brahms einzelne Segmente auch über die jeweiligen Satzgrenzen hinaus zusammenhängen.

Denn nicht nur die Tonarten sind in dieser ersten Sinfonie eng miteinander verwoben, auch die Gestaltung der Motive.

Im Finale machen Nézet-Séguin und das Chamber of Europe klar, wie eng bei Brahms die Dinge manchmal zusammenhängen: kurz aufblitzendes Blech, rasche Verdunklung, dann ein choralartiges Thema, vorgetragen von Hörnern.

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Klug aufgefächert, aber nichts Neues

Nach dieser ersten Sinfonie bin ich allerdings ein wenig unschlüssig, wo die Reise hingehen mag. Es ist ein gut strukturierter Brahms und klug aufgefächert, aber nie sämig, breit oder bleiern. Das aber darf man von modernen Einspielungen heutzutage aber auch erwarten.

Die Frage ist vielmehr: Was erkennt Nézet-Séguin in diesen vier Sinfonien Neues? Im ersten Satz der zweiten Sinfonie erkenne ich sehr dichte Binnenspannung: Die einzelnen Motive greifen eng ineinander, bis die blitzende Trompete eine Art Machtwort spricht, und die Musik danach einen anderen Weg nimmt.

Das ginge auch deutlich geheimnis- und ahnungsvoller

In den beiden mittleren Sätzen wählt Nézet-Séguin abermals einen Weg der Mitte: die Tempi sind verhalten und vorsichtig gewählt. Beim Allegretto jedoch wird der von Brahms geforderte „grazioso“-Charakter auf diese Weise zu stark ausgebremst.

Das Chamber Orchestra of Europe gestaltet zwar die Dynamik durchaus differenziert, aber in die wirklichen Extremzonen, vor allem in die kaum hörbar leisen Bereiche, dringt es nicht vor. Gerade der Beginn des Final-Satzes der zweiten Sinfonie ließe sich deutlich geheimnis- und ahnungsvoller gestalten.

Fazit: gehobener Durchschnitt

Auch in der dritten und vierten Sinfonie ließen sich Beispiele finden, wo sich vieles in den Mittelbereichen, aber nicht in den Außenzonen der Ausdrucks-Skala abspielt.

Etwa der rätselhafte Beginn in Brahms‘ letzter Sinfonie. Auf ein erstes seufzerartiges Motiv antworten die Streicher sofort mit kurzen Aufschwüngen, und das mehrfach hintereinander. Um diese Aufschwünge auch erkennbar zu machen, müssten sie mit etwas mehr Nachdruck gespielt werden – so dass sich eine Art Frage-Antwort-Spiel ergibt. Das aber ist hier nicht der Fall. Seufzer und Aufschwung verschwimmen zu einer Einheits-Phrase.

Yannick Nézet-Séguin und das Chamber of Europe haben eine insgesamt solide, ansprechende Aufnahme der vier Sinfonien von Johannes Brahms vorgelegt. Nicht weniger, aber leider auch nicht mehr. Gehobener Durchschnitt, so das Fazit. Dass man diese Werke ungleich aufregender, neuartiger deuten kann, haben erst vor zwei Jahren das Dänische Kammerorchester und Adam Fischer eindrucksvoll bewiesen.  

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