Am 4. September jährt sich der Geburtstag des Komponisten Anton Bruckner zum 200. Mal. Bis heute gilt er als Sonderling – musikalisch und menschlich. Doch was ist dran, am Bild des gottesfürchtigen Mannes, der schon zu Lebzeiten oft Mitleid erregt hat, weil er – angeblich – so unsicher und unbeholfen wirkte, und dessen Musik heute in allen großen Konzertsälen der Welt heimisch ist? Rüdiger Görner hat eine neue Biographie über Anton Bruckner geschrieben.
Unser Bild von Anton Bruckner: Ein Eigenbrötler
Er hat es uns nicht einfach gemacht, und womöglich war er selbst auch nicht einfach: Anton Bruckner. Welches Bild haben wir von Anton Bruckner?
Das fragt Literatur- und Kulturwissenschaftler Rüdiger Görner gleich zu Beginn seiner Biografie über Anton Bruckner und findet, er stehe da als ein Anekdotenlieferant, „tapsig bis tollpatschig, […] die Hosen zu kurz, der Gehrock sichtbar ausgebeult, abgestoßen an den Ärmeln und am Revers“.
Überwindung der Einsamkeit durch Kunst
Wie lassen sich aber Vorstellung und Wahrheit bei Bruckner zusammenbringen? Görner nähert sich dem Komponisten mit einer fragenden Haltung und kommt unter anderem zu dem Schluss:
Einsamkeit und die Sehnsucht nach ihrer Überwindung durch Kunst sei eine Grundspannung in seinem Leben gewesen.
Fragende und chronologische Erzählweise
Die fragende Haltung begleitet uns bei der Lektüre dieses Buches immer wieder. Görner stellt auch viele Fragen, die er teilweise nicht beantworten kann oder will, die aber helfen können, uns Bruckner möglichst authentisch und lebensnah vorzustellen.
Dabei erzählt er Bruckners Leben chronologisch. Manchmal greift er aber mit guten Gründen vor, „denn Phasen von Bruckners Leben greifen ineinander wie manche Motive in den überdimensionalen Sätzen seiner Symphonien“.
Sprachgewandte und plastische Darstellung
Dabei zeichnet Rüdiger Görner das Leben Bruckners sprachgewandt – teilweise sprachgewaltig – nach. Zwar werden die Quellen am Ende aufgelistet, doch nicht immer wird klar, was dadurch abgesichert ist, und was Görners eigener plastischer Darstellung zu verdanken ist:
„Barfuß wird er gegangen sein, der kleine Anton, wie damals üblich, bis zum ersten Schneefall, die Joppe, von mütterlicher Hand gestrickt, dazu ein kleiner Filzhut – ohne Feder. Er hörte die Natur mehr, als dass er sie sah […] Etwas Trotziges geht von diesem Jungen aus.“
Es sind Passagen wie diese, die unsere Neugierde als Leser, als Leserin hochhalten. Wenn Bruckner in Linz erstmals mit der Musik Richard Wagners in Berührung kommt, gestaltet Görner das sehr plastisch und ausführlich. Auch weil Bruckner hier – nach seinen Jahren theoretischer Studien – nun näher an der Praxis ist.
Kleine Ungenauigkeiten
Den Literaturwissenschaftler in sich kann Rüdiger Görner nicht verbergen. Das kommt dem Buch dank vieler Querverweise zugute. Wenn er sich nun erstmals ausgiebig einem Musiker zuwendet, schwingt vor allem die Begeisterung für den Biografierten mit, vereinzelt auf Kosten von Ungenauigkeiten wie bei Robert Schumanns „Carneval“ (statt „Carnaval“).
Auch dass Bruckner in London vor 70.000 Zuhörern die Orgel gespielt hat, ist zwar oft zitiert worden, entspricht aber kaum den Tatsachen und hätte daher kritisch hinterfragt werden können. Umgekehrt scheut sich Görner nicht, persönliches Hörempfinden mit essayartigen Betrachtungen zu verbinden.
Gegenentwurf zu Diergartens Bruckner-Biografie
Vor diesem Hintergrund wirkt Gröners Buch (teilweise) wie ein Gegenentwurf zu der ebenfalls noch neuen Bruckner-Biografie von Felix Diergarten.
Darum ist gerade diese Biografie auch für alle geeignet, die Bruckners Aura und den Geheimnissen seiner Musik (neu) entdecken möchten.
Noch mehr Bücher über Anton Bruckner
Buch-Tipp Ein unentbehrliches Buch: „Anton Bruckner & Sankt Florian – wie alles begann“
Vor 200 Jahren wurde in ärmlichen Verhältnissen der Komponist Anton Bruckner geboren. Zeitlebens war er mit dem Stift Sankt Florian verbunden, dem großen Augustiner-Kloster vor den Toren von Linz. Hier erhielt Bruckner seine Ausbildung, arbeitete jahrelang als Organist und kehrte immer wieder in das Kloster zurück.
Buch-Tipp Felix Diergartens neu erschienene Biografie über Anton Bruckner
Im nächsten Jahr stehen wieder einige runde Jubiläen im Musikkalender, das vielleicht prominenteste: der 200. Geburtstag von Anton Bruckner (4. September 2024). Wie so oft werden bereits im Vorfeld mehrere Neuveröffentlichungen platziert, sowohl bei CD-Alben als auch auf dem Buchmarkt. Jetzt ist die lang erwartete und grundlegend neu recherchierte Biografie über Anton Bruckner erschienen, verfasst von dem Musikwissenschaftler Felix Diergarten, der an der Hochschule Luzern tätig ist. Christoph Vratz hat das Buch gelesen.
Buch-Tipp Dickschädels Reisen - Durch Oberösterreich mit Anton Bruckner
„Ein ewig Rätsel will ich bleiben …“, dieses berühmte Zitat Ludwigs II. trifft auch auf den österreichischen Komponisten Anton Bruckner zu. Insbesondere weil dessen Symphonien als die größten Mysterien der romantischen Symphonik bezeichnet wurden. Heute gilt Anton Bruckner als der innovativste Tonschöpfer seiner Zeit. Anlässlich seines 200. Geburtstags steht er im Mittelpunkt, auch mit vielen neuen Publikationen: Der österreichische Autor Florian Sedmak hat sich auf Spurensuche begeben. Dorothea Hußlein hat sich für uns damit beschäftigt.
Konzerte mit Musik von Anton Bruckner
SWR Web Concerts Teodor Currentzis dirigiert Bruckners 9.
Fieberhaft, bis kurz vor seinem Tod, arbeitete Anton Bruckner an dieser Sinfonie. Er konnte sie nicht mehr vollenden, der vierte Satz blieb Fragment.
SWR Web Concerts Pablo Heras-Casado dirigiert Werke von Anton Bruckner
Mit Christina Landshamer, Sophie Harmsen, Daniel Behle und Franz-Josef Selig. Pablo Heras-Casado dirigiert das SWR Vokalensemble, den WDR Rundfunkchor und das SWR Symphonieorchester. Livemitschnitt der Saisoneröffnung des SWR Symphonieorchesters in der Stuttgarter Liederhalle vom 13.9.2024.
Noch mehr zu Anton Bruckner
„Das ist eigentlich ein Lebenswerk“ Bruckners Sinfonien für die Orgel: Eberhard Klotz über seine Bearbeitungen
„Der Bearbeiter muss wissen: Was ist die Essenz?“ Der Stuttgarter Organist, Pädagoge und Komponist Eberhard Klotz hat sich der Herkulesaufgabe gestellt, alle Sinfonien Anton Bruckners für Orgel zu bearbeiten. Jetzt werden sie beim „Kultursommer Rheinland-Pfalz“ in den Domen von Speyer, Trier, Mainz und Worms anlässlich des Bruckner-Jubiläumsjahres aufgeführt. In SWR Kultur berichtet der leidenschaftliche Bruckner-Kenner vom kreativen Schaffensprozess des Bearbeitens und der Faszination, Bruckners Sinfonien auf die Orgel zu übertragen. „Das ist eigentlich ein Lebenswerk“, sagt er.
Kommentar Komponisten und Jubiläen: Nullnummern in der Programmgestaltung
Das Jahr 2024 ist voll mit runden Geburtstagen (Bruckner, Nono, Smetana) und Todestagen (Puccini, Fauré, Busoni). Ein neuer Blick auf Altbekanntes tut Not, findet Albrecht Selge.
Zum 200. Geburtstag Die Bruckner-Ausstellung in Wien: Einzigartige Ausstellungsstücke
Zum 200. Geburtstag von Anton Bruckner ist im Prunksaal der Wiener Nationalbibliothek eine große Ausstellung zu sehen. Bruckner verbrachte fast 30 Jahre seines Lebens in Wien und entwickelte sich dort zum großen Sinfoniker. Die Wiener Nationalbibliothek ist im Besitz einer weltweit einzigartigen Bruckner-Sammlung, die Ausstellung präsentiert ausgewählte Stücke ihrer Sammlung und präsentiert den Komponisten, der bereits zu Lebzeiten als Sonderling galt. Regine Müller hat die Ausstellung besucht und mit ihren Machern gesprochen.