1918 wird der Berliner Konzertpianist Leo Kestenberg Kunst-Referent im Bildungsministerium der ersten Regierung der Weimarer Republik. Seine Verdienste wirken bis heute in die Musikerziehung. Über Kestenberg und seine Verdienste hat der Archivar Dietmar Schenk die Monografie „Menschenbildung durch Musik“ geschrieben.
Ein Konzertpianist wird Kunstreferent im Bildungsministerium
Berlin im November 1918: Sozialdemokrat Philipp Scheidemann ruft die deutsche Republik aus. Auf den Straßen wird geschossen, es herrschen chaotische Zustände. Im Dezember tritt ein Mann als Referent in die Kunstabteilung des Preußischen Bildungsministeriums ein, der unter normalen Umständen wohl nie in diese Stellung gelangt wäre.
Leo Kestenberg ist Konzertpianist, ein Schüler des legendären Ferruccio Busoni. Neugierig und ungläubig schaut sich Kestenberg in der Behörde um, die sich gerade auf den holprigen Weg vom Obrigkeitsstaat in eine ungewisse demokratische Zukunft macht.
Später erinnert er sich: „Die Arbeiter- und Soldatenräte, die zu jener Zeit gebildet wurden, führten das große Wort in den Ministerien, und bald machten sich auch im Kultusministerium alle möglichen Elemente breit.“
Klassenkampf und musikalische Bildung
Es ist eine krisenhafte Zeit. Schwer vorstellbar, dass sich in dieser Situation irgendjemand mit der Reform von Musikunterricht in Deutschland auseinandersetzte. Aber tatsächlich hat Leo Kestenberg Übung darin, Klassenkampf und musikalische Bildung zusammenzudenken.
Um das zu glauben, muss man seine Erinnerungen an die Kindheit im böhmischen Reichenberg lesen: „Es mag der erste Mai des Jahres 1892 gewesen sein, als mein Vater mit mir auf den Altstädterring ging, um dem Demonstrationszuge der Arbeiter beizuwohnen. Schon damals, als kleinen Bub, beherrschte mich das Gefühl der Zugehörigkeit zu diesen Massen. Am Nachmittag des gleichen Tages spielte ich in meiner Klavierstunde ein Lied ohne Worte von Mendelssohn, und mit mehr oder weniger Bewusstsein versuchte ich, das elementare Gefühl von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit in den Tönen zum Ausdruck zu bringen. Schon damals hat mir dunkel die Einheit von Sozialismus und Musik vorgeschwebt.“
Grundlagen für die moderne Musikerziehung
Kestenbergs Lebensziel, Musik für Alle zugänglich zu machen, wird 1921 im politischen Raum erstmals sichtbar – in der Programmschrift „Musikerziehung und Musikpflege“.
Man kennt damals schulische Musikerziehung, vor allem als Gesangsstunden inklusive Prügelstrafe, im Dienst von Obrigkeitsstaat und Kirche. Aber 1924 wird Kestenbergs „Denkschrift über die gesamte Musikpflege in Schule und Volk“ vor dem Preußischen Landtag verhandelt. Das Epochale an Leo Kestenberg sind nicht seine Ideale – sondern sein Beharrungsvermögen in einem trägen politischen Apparat.
Kestenberg beschäftigt Dietmar Schenk seit über dreißig Jahren
Dietmar Schenk fasziniert das schon lange. Er ist der Verfasser der Kestenberg-Monographie „Menschenbildung durch Musik“. Für ihn ist Kestenberg eine Persönlichkeit, die in unserer Demokratiegeschichte mitzähle, weil er in besonderer Weise das Verhältnis zwischen Demokratie und Kunst gelebt habe.
„Er ist nicht ein Intellektueller, der sich zur SPD bekennt“, so Schenk, „er ist verwachsen in der Arbeiter-Bildungsbewegung und wird von denen mitgetragen.“
Dietmar Schenk war lange Jahre Archivar der Universität der Künste Berlin, im Juni ist er in Rente gegangen. Mit Leo Kestenberg beschäftigt er sich seit über dreißig Jahren. „Als ich ein ganz junger Archivar war, kriegte ich einen Anruf, dass da jemand so Briefe zur Berliner Musikgeschichte hätte“, erinnert sich Schenk. „Das war ein Teilnachlass des damaligen stellvertretenden Direktors der hiesigen Hochschule für Musik Georg Schünemann.“
Detailreicher Blick ins kulturelle Leben der Weimarer Republik
Die Rektoren der Berliner Musikhochschule korrespondierten in der Weimarer Republik naturgemäß sehr oft mit dem Musikreferenten des Ministeriums Leo Kestenberg. Schenks 440-seitiges Buch taucht über die Figur Kestenberg detailreich ins kulturelle Leben der Weimarer Republik ein – und wird dadurch auch für Kestenberg-Neulinge interessant.
Über Kestenberg selbst ist schon sehr viel geschrieben worden: über sein Wirken nach der Flucht aus Berlin über Prag nach Tel Aviv, und schließlich auch über das Nachwirken der Weimarer Musikreform in der Nachkriegszeit.
Was in Dietmar Schenks Augen noch fehlte, war folgendes: „Der Aspekt der Einbindung seines Engagements in die Kulturpolitik der Weimarer Republik. Und da ist es so, dass in der Literatur Kestenberg immer stark als der große Macher dastand. Das ist eine Auffassung, die einen Hintergrund auch darin hat, dass er in der NS-Zeit regelrecht als sogenannter Musikdiktator denunziert wurde.“
Dietmar Schenk kennt sich in bürokratischen Prozessen bestens aus
Leo Kestenberg war Musikreferent in einer erstmals demokratisch legitimierten Verwaltung – nicht mehr und nicht weniger. Dietmar Schenk kennt sich mit bürokratischen Prozessen bestens aus.
Er macht deutlich: Musikerziehung und musikalische Bildung für Alle und Jeden verfügbar zu machen, das war damals nicht das Anliegen eines Einzelnen, sondern ein gesellschaftliches Anliegen. Als unverzichtbarer Teil einer funktionierenden Demokratie. Das ist es, woran man sich heute genau erinnern sollte.
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