Auf ihrem neuen Album “Bach UnCaged” kombinieren die Pianistin Mina Cajić und der Violinist Zachary Carrettin Johann Sebastian Bachs Violinsonate in G-Moll mit John Cages „Sonatas and Interludes for Prepared Piano“ – und erschaffen einen neuen Hör-Raum, in dem das Altbekannte ganz ungewohnt klingen darf.
Bis zur beinahen Unkenntlichkeit rhythmisiert
Man hört zwar den ersten Satz von Johann Sebastian Bachs 1. Violinsonate in G-Moll, BWV 1001, doch merkt schnell, dass der Violinist Zachary Carrettin es nicht wie alle anderen spielt. Diese Interpretation ist langsamer, freier und flexibler als ungefähr alles, was Interpretinnen und Interpreten bis dato mit diesem Werk angestellt haben.
Carrettin bewegt sich wie mit einer Lupe über die Partitur, spielt jeden einzelnen notierten Ton, phrasiert aber anders, bricht die Akkorde neu und löst sich fast gänzlich von der notierten Rhythmik. Radikales Rubato ist die Devise – bis zur beinahen Unkenntlichkeit der Komposition, wie die Ohren sie bisher kannten.
Dazu kommt die ungewöhnliche Instrumentierung: Carrettin spielt auf einer elektrischen Violine mit einem Barockbogen und effektiert manche Stellen mit einem Pedal, sodass akustische Verzögerungen oder Echos entstehen:
Eine Reise durch die Komposition
„Was soll das?“ kann man sich nun fragen. Warum Bach drauf schreiben auf ein Album und sich dann so weit von dem Gewohnten entfernen, dass bei den Hörenden ein seltsam ambivalenter Eindruck entsteht, ein Gefühl zwischen: das kenne ich doch, und: irgendwas ist aber komisch.
Die Antwort gibt Carrettin im Booklet: Er ist mit der historischen Aufführungspraxis vertraut, hat zum Beispiel Franz Schuberts Sonatinen op. 137 mit historischen Instrumenten oder auch Bachs Cello-Suiten auf Barockbratsche aufgenommen. In den Jahren der intensiven Auseinandersetzung mit Bachs Werk hat ihn aber mehr und mehr die darin eingeschriebene Flexibilität fasziniert: Nichts an Bachs Musik sei endgültig, schreibt er.
Und so nimmt er uns nun mit auf eine Art Deep-Dive in die Partitur: Das Manuskript wird zu einer Karte, mit der Carrettin wie ein Reiseführer durch die Komposition navigiert. Da wird das virtuose Feuer-Presto auch mal zum konzentrierten Andante.
Angepasste Reihenfolge
Als musikalischen und historischen Kontrapunkt nehmen Carrettin und die Pianistin Mina Cajić auf diesem Album John Cage und seine „Sonatas and Interludes for Prepared Piano“ hinzu – mit den kurzen Stücken unterbrechen sie die vier Sätze der Bach-Sonate.
Allerdings brechen sie auch hier die Dramaturgie auf, halten sich nicht an die Nummerierung des Komponisten, sondern setzen die erste Sonata zum Beispiel vor die 5. und 6. im Anschluss an Bachs II. Satz, die Fuge.
Jugendlicher John Cage: beschwingt und tänzelnd
Die Pianistin Mina Cajić denkt bei John Cages präpariertem Klavier an die Klänge indonesischer Gamelan-Ensembles, schreibt sie im Booklet, voller Obertöne und Resonanzen, die im Spektrum klassischer westeuropäischer Instrumente nicht oder kaum vorhanden sind.
Durch ihre Interpretation sind die Cage-Interludien und -Sonaten auf dieser Aufnahme beschwingter und tanzbarer als die Sätze aus Bachs Violinsonate, schlichter und gleichzeitig verspielter.
Cajić schreibt: „Ich höre die Spielfreude und den jugendlichen Enthusiasmus von Cage, die Freude und das Staunen, die er zeitlebens mit anderen teilte. Die Werke sind ausdrucksstark, emotional und gleichzeitig auf einen Punkt fokussiert, wie eine Kerzenflamme in einem dunklen Raum.“
Musikalische Traumwelt
Dieses Album dreht die gelernten Assoziationen auf den Kopf: Bach ist hier nicht der strenge, logische, auf Puls und Genauigkeit festgelegte Meister, und Cage nicht der abgehobene Avantgardist, der sich von allen Regelwerken löst. Im Gegenteil: Bachs Werk wird auf dieser Aufnahme zu einer fließenden musikalischen Traumwelt, aus der die Cage-Interludien gewissermaßen aufwecken.
Bach verkörpert eine ferne, verhallende Erinnerung an eine musikalische Epoche, deren Klang wir ohnehin nicht mehr wirklich nachvollziehen können. Cage dagegen holt die Gegenwart ins Boot, die Realität eines tickenden, tanzmusikalischen, ästhetisch und künstlerisch gebrochenen und zugleich freieren musikalischen Jetzt.
Entfesselt dank der Musik
In einem Raum, in dem sich künstlerische Konzepte so schnell verändern wie wohl noch nie zuvor, ist ein Album wie dieses ein Geschenk – es erinnert uns daran, diese Freiheit und Beweglichkeit zu genießen. Es ermutigt dazu an festgefahrenen, engen Kunstvorstellungen zu rütteln und manche vermeintlich feststehenden Wahrheiten zu „uncagen“ – also aus dem Käfig zu lassen und ganz neu zu reflektieren.
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