Neunziger-Kult

Start vor 30 Jahren: Wie VIVA zur Talentschmiede für Raab, Makatsch & Co. wurde

Stand
Autor/in
Franziska Kiedaisch
Franziska Kiedaisch, Autorin und Redakteurin, SWR Kultur

Wer in den 90ern ein Teenager war, erinnert sich noch gut an den Moment, als mit VIVA ein neuer Musiksender auf der Bildfläche erschien. Mit dem Senderstart vor 30 Jahren begann nicht weniger als eine neue Ära des Jugend- und Musikfernsehens. Für VIVA-Moderatoren wie Stefan Raab, Heike Makatsch oder Nilz Bokelberg war es ein Sprungbrett für eine Karriere in der Öffentlichkeit.

Heike Makatsch moderiert die erste Sendung im bauchfreien Top

Eine Ansage gibt es gleich zum Sendebeginn: Der Titel „Zu geil für diese Welt“ der Fantastischen Vier ist das erste Musikvideo, das am 1. Dezember 1993 beim neuen Musiksender VIVA läuft.

Bilder zum Sendestart von Viva
Heike Makatsch ist von Beginn an bei VIVA dabei. Auf der roten Couch interviewt sie Musiker*innen. Zuschauerpost erreicht das Studio über das legendäre Kussmund-Faxgerät.

Anmoderiert wird er von keiner geringeren als Heike Makatsch – heute eine der bekanntesten deutschen Schauspielerinnen. „Wir haben lange überlegt, wen wir für euch hier als Ersten präsentieren, welchem Clip die Ehre zuteil wird, als Number One zu laufen, als Premiere auf VIVA. Ganz klar, dass wir uns für eine Band entschieden haben, die so ist wie wir: zu geil für diese Welt“, sagt sie zum Auftakt von VIVA.

Makatsch, in bauchfreiem Top mit Zopf-Frisur, ist aber nicht allein im VIVA-Studio, das an einen Dachboden erinnern soll. Mit dabei sind auch Nilz Bokelberg, der mit Ringelmütze und Baggy-Pants lässig in einem Hängesitz rumhängt und der „einzig wahre Mola“ Adebisi, wie er sich selbst den Zuschauern vorstellt, der im Hintergrund auf einer Fensterbank rumlümmelt.

Die ersten Minuten der ersten VIVA-Sendung:

VIVA - Sendestart/Programmstart / Heike Makatsch / Nilz Bokelberg / Mola Adebisi

1990er-Jahre-Jugendkultur pur

Poppig, bunt, unkonventionell bis frech, unterhaltsam und in der Ansprache zeitgemäß ist der neue Kanal, der als Pendant zu MTV vornehmlich deutschsprachige Musikclips zeigen soll.  

VIVA ist beim Senderstart 90er-Jahre-Jugendkultur pur, am Puls der Zeit. Die Haltung: dezidiert den jungen Zuschauern zugewandt, auf Augenhöhe. „Ich habe damals immer die Losung ausgegeben, wir brauchen die Unterstützung und die Zuneigung von allen Teens und allen Twens“, sagt Christoph Post, Mitbegründer und erster Programmdirektor von VIVA, deshalb Jahre später gegenüber dem Deutschlandfunk

Bilder zu VIVA
Die VIVA-Moderatoren sind Vorbilder für eine ganze Generation: Stefan Raab, Minh-Khai Phan-Thi und Mola Adebisi (von links).

Das macht gerade die Moderatoren, bei Musiksendern VJs (Visual Jockeys) genannt, zu beliebten Identifikationsfiguren und zu Vorbildern einer ganzen Generation.

Wir sind mehr als nur ein Fernsehsender, denn wir sind euer Sprachrohr und euer Freund. Und ab heute bleiben wir für immer zusammen, ok?

Liebesbriefe und Grüße per Fax aus dem Kussmund

Auch wenn es mit dem „Für immer zusammenbleiben“ nicht geklappt hat – nach 25 Jahren wird VIVA zum Jahreswechsel 2018/19 trotz guter Sehbeteiligungen eingestellt – ist das Selbstverständnis des Senders von Beginn an klar: Wir sind für euch da und fragen die Stars, was euch interessiert. In der Eigenbeschreibung ist VIVA ein „Jugend- und Musiksender für Pop und Fun“.

Nilz Bokelberg und Heike Makatsch bei VIVA
Nilz Bokelberg und Heike Makatsch sind von Beginn an Teil von VIVA. Heute sind beide nicht mehr aus der Öffentlichkeit wegzudenken.

Das rege Interesse der Zuschauer an diesem unmittelbaren Zugang zu den Stars zeigt sich in etlichen Beteiligungsmöglichkeiten während der Sendungen. VIVA ist in den 90ern, aber auch danach, ein zutiefst partizipatives TV-Erlebnis: So spuckt das legendäre Kussmund-Faxgerät bei „VIVA Interaktiv“ ununterbrochen Zuschauerpost ins Studio, auch mittels Live-Anrufe können Fans mit den Gästen der Sendung sprechen. Und zu Gast war das Who-is-Who der Zeit.

„VIVA Interaktiv“ in den 90ern:

VIVA Forever - Interaktiv in den 90ern (Zusammenschnitt)

Das Who-is-Who der Musikszene zu Gast

Ob Backstreet Boys, Kelly Family, Blümchen oder Tic Tac Toe: Viele auch international namhafte Musiker*innen sitzen in den 90ern – vor der Erfindung von Youtube, Musikstreamingdiensten und Social Media – bei VIVA auf der Couch und stellen sich den bisweilen nicht ganz jugendfreien Fragen von Moderatoren und Zuschauern.

Mit einem Finger auf dem Record-Knopf verbringen viele Jugendlichen ihre Nachmittage zu jener Zeit damit, den richtigen Moment abzupassen, um den Lieblingsclip oder das Interview mit der Lieblingsband auf VHS-Kassette aufzuzeichnen.

Bilder zu VIVA
Poppig, bunt und am Puls der Zeit: VJane Jessica Schwarz, heute eine renommierte Schauspielerin, auf der „Interaktiv“-Couch.

Sowohl Mainstream-Hits als auch nischigere Titel werden im Programm präsentiert, etwa House-Tracks in „Club Rotation“ mit Daisy Dee, Indie-Rock-Titel in „Wah²“, moderiert von Phil Daub und Markus Kavka oder Hip-Hop-Clips in „Freestyle“ mit dem Heidelberger Rapper Torch.

„Kamera an und einfach mal schauen, was passiert“

Schaut man sich die Mitschnitte aus den Anfangsjahren von VIVA an, fällt auf, dass Fernsehen noch viel improvisierter war als heute. „Bei VIVA lief es folgendermaßen: Kamera an und einfach mal schauen, was passiert“, beschreibt die ehemalige VIVA-Moderatorin Collien Ulmen-Fernandes gegenüber der DPA. „Das, was den Sender einzigartig gemacht hat, gibt es heute so kaum noch im deutschen Fernsehen“, fügt sie an.

Inzwischen ist VIVA Kult, auch weil die Machart des Senders vieles über die Zeit seiner Entstehung verrät. Einen Blick auf das Phänomen VIVA wirft die dreiteilige Doku „Die VIVA Story - zu geil für diese Welt!“ von ARD Kultur.

ARD Mediathek Die VIVA-Story - zu geil für diese Welt!

Stars, Popkultur und das Lebensgefühl zwischen Mauerfall und 9/11 zeigt diese Doku zum 30. Geburtstag des einstigen Musiksenders VIVA, der erst den Zeitgeist prägte – und dann von ihm überrollt wurde.

Bei VIVA werden Karrieren gemacht

VIVA, kurz für Videoverwertungsanstalt, ist in den 90er-Jahren beides: für Musiker*innen eine begehrte Möglichkeit, Eigenwerbung zu machen und für die Zuschauer ein Weg, um neue Musik zu entdecken. Bei VIVA werden Karrieren gemacht, der Sender selbst ist eine Talentschmiede für junge Musiker*innen, aber auch für die Moderatorinnen und Moderatoren.

Die Band Echt mit VIVA-Moderator Lämmermann
VIVA wird zum Karriere-Sprungbrett für junge Musiker*innen – unter anderem für die Flensburger Band ECHT. 1999 interviewt VIVA-Moderator Frank Lämmermann im Rahmen eines Schülerferienfest beim Saarländischen Rundfunk die Band. Im Hintergrund ist der ehemalige Ministerpräsident Peter Müller zu sehen.

So erzählt etwa Kim Frank, Sänger der Band ECHT, in der SWR Doku „ECHT – Unsere Jugend“, wie die Gruppe durch einen glücklichen Zufall zunächst Teil der Sendung „Interaktiv on tour“ wurde und im Anschluss eine Kamera vom Sender erhielt, mit der die Bandmitglieder ihren Alltag auf humorvolle Weise dokumentierten.

Talentschmiede für Musiker und Moderatoren

Kleine, noch unbekannte deutsche Acts bekommen mit VIVA eine neue Plattform. Der frühere VIVA-Programmdirektor Christoph Post nennt den Start des Senders gegenüber dem Deutschlandfunk deshalb einen „Dammbruch für die junge, popkulturelle kreative Szene Deutschlands, von der man, ehrlich gesagt, gar nicht wusste, dass sie da ist.“

Doch VIVA ist vor allem auch für die Moderatorinnen und Moderatoren ein wahres Sprungbrett in die Öffentlichkeit: nicht nur für Heike Makatsch, die ab 1995 mit „Heikes Hausbesuch“ sogar ein eigenes Format erhält.

Stefan Raab wurde von VIVA entdeckt

Einer der berühmtesten unter ihnen ist Stefan Raab, der sich kurioserweise gar nicht als Moderator, sondern als Komponist beim Sender beworben hat. Raab bietet Anfang der 90er dem neuen Sender selbst komponierte Musikjingles an. Schnell wird aber bei einem persönlichen Kennenlernen klar, dass Raab auch zu mehr bestimmt sein könnte.

Stefan Raab 1995
Auch seine TV-Karriere beginnt bei VIVA: Stefan Raab.

Die Teilnahme an einem der begehrten Moderatoren-Castings wird ihm nahegelegt und Raab erhält schließlich mit „Vivasion“ seine eigene Sendung, die er von 1993 bis 1998 dreimal wöchentlich moderiert. Später folgt das monatliche Format „Ma' Kuck'n“, in dem die Gäste unter anderem live mit einer Tanzkapelle ihre Hits performen.

Neben verschiedenen Einspielern wie den unanständigen Erlebnissen eines Hasens unter dem Titel „Elvis lebt“ oder der Kakerlaken-Sitcom „Die Kakis“ improvisiert Raab auch schon während seiner Zeit bei VIVA gern, sei es musikalisch mit seinen Gästen oder während der Moderationen und Zuschaueranrufe. Ein Moderationsstil, den der gelernte Metzger auch bei „TV Total“ nicht ablegen wird.

Stefan Raab bei „Vivasion“:

VIVA Forever - VIVASION mit Stefan Raab (frühe Ausschnitte)

Nilz Bokelberg präsentiert Plattencover, Enie van de Meiklokjes rät um die Wette

Auch der Junge aus dem Hängesitz ist heute nicht mehr aus der Öffentlichkeit wegzudenken. Nilz Bokelberg hat heute mehrere Podcasts, moderiert und macht Musik.

Nilz Bokelberg bei VIVA:

VIVA Forever - Clips aus Anfangszeit mit Nilz Bokelberg und Co. (1993)

Bei SWR Kultur präsentiert er im Instagram-Format „Coverlover“ mit viel Fachwissen und Humor ikonische Plattencover.

Klaas Heufer-Umlauf startet ebenfalls seine Moderatorenkarriere bei VIVA, ebenso wie Matthias Opdenhövel, Sarah Kuttner, Jessica Schwarz, Charlotte Roche, Oliver Pocher oder Enie van de Meiklokjes, deren Beziehung zum acht Jahre jüngeren Echt-Sänger Kim Frank – damals 17 Jahre alt – Ende der 90er für einen mittelschweren Skandal sorgt. Heute ist sie unter anderem Teil des Rateteams in der SWR-Sendung „Meister des Alltags“.

VIVA ist mehr als ein Musiksender

Heute scheint das VIVA-Konzept nicht mehr zeitgemäß, die Einstellung des Senders vor fünf Jahren damit zwangsläufig. Die Möglichkeiten, neue Musik zu entdecken, sind in der Gegenwart vielfältiger geworden. Zwischen Streamingplattformen wie Spotify und Videoportalen wie Youtube gibt es für die Zuschauer damit keine Notwendigkeit mehr, auf die Ausstrahlung eines Musikvideos mitunter stundenlang zu warten.

Anstelle einer redaktionellen Auswahl von Musiktiteln trifft heute oftmals ein Algorithmus die Entscheidung, der die individuellen Vorlieben der Hörer*innen besser zu kennen scheint als jede Genre-Musiksendung das jemals könnte.

Damit ist VIVA vor allem eins: eine Erinnerung an eine andere Zeit, in der junge unbedarfte Menschen Fernsehen für andere junge Menschen machten und klobige Plastik-Schuhe, quietschbunte Klamotten oder Zickzack-Scheitel zum guten Ton gehörten.

Auch wenn das aus heutiger Sicht etwas trashig anmuten mag und es den Musiksender seit 2018 nicht mehr gibt: Kein anderer TV-Sender steht mehr für den Zeitgeist der 90er-Jahre und seine Jugendkultur als VIVA. Bis heute.

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Die 80er und 90er Jahre sind zurück! Scheint zumindest so, wenn man aktuelle Musik hört oder Trends auf der Straße sieht. Und auch Apache 207 singt: “Ich seh' aus wie die Nineties, sie kriegt Daddy-Issues”. Aber woher kommt die Lust an der vergangenen Zeit? War früher wirklich alles besser? Oder reden wir uns die schnelllebige, digitale Gegenwart voller Krisen und Unsicherheiten schön?

Dass wir uns eher an positive Zeiten als an die negativen erinnern, bestätigt uns Monika Schönauer, sie ist Professorin für Neuropsychologin an der Uni Freiburg: “Je schlechter die Zeiten, desto mehr hat man einen Hang zur Nostalgie. In der Psychologie sagt man, Nostalgie ist ein Gefühl: Und wir können Erinnerungen abrufen, die dieses Gefühl auslösen.”

Pop-Experte und Autor Jens Balzer ist gerade aus den 90er-Jahren quasi wieder aufgetaucht: Er hat sich für sein neues Buch intensiv mit dem Jahrzehnt beschäftigt. Mauerfall, Ende des Kalten Krieges, das Ende der Geschichte: Es sie keine Überraschung, dass sich gerade viele nach den 90er-Jahren sehnen: “Die große Kriegsbedrohung, unter der man in den 80er-Jahren litt, war vorbei. Junge Menschen kamen ganz anders zusammen und feierten.” Diese Lust an Party habe zum Beispiel den Geist Berlins geprägt, der bis heute anhält.

Aber natürlich war früher eben nicht alles besser und Nostalgie hat nicht nur ihre schönen Seiten: Rechtspopulistische Politiker verklären gern die alten Zeiten und für viele, insbesondere queere Menschen, Frauen oder People of Colour waren die “guten alten Zeiten” oft alles andere als gut. Und es gebe natürlich auch ein kapitalistisches Interesse daran, die vergangenen Jahrzehnte zu verwerten, sagt Balzer: “Dass Serien wie Stranger Things gerade so populär sind, liegt auch daran, dass das die Generation der Boomer sei, die genug Geld hat, um zum Beispiel in die passenden Fashion-Items zu investieren.” Worin sich alle vier einig sind: Corona-Mottopartys in dreißig Jahren? Sie werden kommen!

Welches Jahrzehnt ruft bei euch nostalgische Gefühle hervor? Mailt uns, auch mit Feedback und Themenvorschlägen, an kulturpodcast@swr.de!

Host: Pia Masurczak und Christian Batzlen
Showrunner: Kristine Harthauer

Jens Balzers Buch über die 90er-Jahre: “No Limit. Die Neunziger - Das Jahrzehnt der Freiheit” https://www.rowohlt.de/buch/jens-balzer-no-limit-9783737101738

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