Was passiert, wenn Eltern ihrer Tochter verbieten, ein eigenes Leben zu führen? Das Mädchen gerät in Konflikt mit seinem Wunsch. Dies ist eine der Urszenen, aus denen die Frauenbewegung entstanden ist. Eine ihrer Wortführerinnen: Simone de Beauvoir. Von solch einer Urszene handelt auch der Roman „Die Unzertrennlichen“, der in Simone de Beauvoirs Nachlass gefunden wurde.
Simone ist eher reserviert, bei Zaza ist das Gefühl überschäumend
Wer sich an seine Lektüre von Simone de Beauvoirs „Memoiren einer Tochter aus gutem Hause“ erinnert – damals in den Sechzigern, Siebzigern, Achtzigern ein Muss für die aufgeklärte junge Frau – dem ist vielleicht die Geschichte ihrer Schul- und Jugendfreundin Zaza noch gegenwärtig.
Mit neun Jahren sitzen Élisabeth „Zaza“ Lacoin und Simone de Beauvoir an einem katholischen Institut für die Kinder des Pariser Großbürgertums nebeneinander in der Klasse. Sie verspüren sofort eine innige Verbindung, verbringen unter mütterlicher Kontrolle einige Ferien zusammen, diskutieren das Wesen Gottes, die gesellschaftliche Etikette, die erdrückenden Bande der Familie und später auch die Liebe und das Recht der Frau auf ein eigenes Leben.
Schon in den „Memoiren“ stellt Simone de Beauvoir sich in der Beziehung zu Zaza als die theoretisch revolutionäre, aber praktisch eher reservierte Person dar. Bei Zaza ist das Gefühl in jeder Richtung dominant, ja überschäumend.
Im Roman „Die Unzertrennlichen“ spiegelt de Beauvoir das Verhältnis der beiden Freundinnen
De Beauvoir zeichnet das Freundinnenpaar in ihrem Roman „Die Unzertrennlichen“ ebenso. Die kühl und klug analysierende Erzählerin Sylvie Lepage – sie steht für Simone de Beauvoir – beobachtet und analysiert die Gefühlswallungen Andrées, die hin und hergerissen ist zwischen Gehorsam gegen Gott und die Eltern oder Revolte, ein weltliches Leben als Musikerin oder eines in stiller Einkehr als Hausfrau und Mutter.
Es ist die Liebe zur Mutter, die Andrée zerreißt. Sylvie hingegen hält Mme Lacoin für eine – Zitat – „militante Katholikin“, die ihre Zweitgeborene so lange kritisiert, attackiert, entmutigt, bis die Tochter aufgibt. Mit 19 isst und schläft Andrée nicht mehr, hackt sich mit der Axt in den Fuß, um ein paar Wochen Ruhe vor den zahllosen Arbeitsaufträgen der Mutter zu haben. Und stirbt mit nicht einmal 22 an einer Hirnentzündung.
Sylvie: „Ich träumte nicht, war immer gut vorbereitet, interessierte mich für alles.“
Mit Blick auf ihre eigene Familie schreibt Sylvie, inzwischen im Lehrerstudium an der Sorbonne: „Ich beglückwünschte mich oft egoistisch dazu, dass ich gezwungen war zu arbeiten. Die Probleme, die Andrée hatte, betrafen mich nicht.“ Die Probleme, die Andrée hatte, hingen nicht nur mit ihren Eltern, sondern auch mit der Kraft ihrer Träume zusammen. Eines Tages fragt sie ihre Freundin Sylvie, ob sie nicht auch manchmal träume. Sylvie verneint und informiert ihre Leser: „Ich träumte nicht, war immer gut vorbereitet, interessierte mich für alles.“
„Die Unzertrennlichen“ ist ein brillant geschriebenes Memoir, aber vor allen Dingen ein zeithistorisches Dokument, das uns daran erinnert, woher wir kommen, was wir überwunden, hinter uns gelassen und erreicht haben. Aus unerfindlichen Gründen geriet dies ein wenig in Vergessenheit.
Als Sylvie und Andrée sich 1919 kennenlernen, sollte kein Mädchen eigene Wünsche ans Leben verfolgen
Als Sylvie und Andrée sich 1919 in der Schule kennenlernten, durften Frauen in Frankreich noch lange nicht wählen. Priester und Eltern drohten mit dem strafenden Gott, der jede Sünde sieht; die unerbittlichen Gesetze nicht nur der besseren Gesellschaft bereiteten Mädchen darauf vor, erst Gott und der Kirche, später dem Ehemann und ihren Kindern zu dienen. Kein Mädchen sollte eigene Wünsche ans Leben verfolgen.
Sachlich-empört (diese Mischung gibt es nur bei de Beauvoir) beschreibt sie die vernichtende Kraft der Tradition, nüchtern-poetisch die Reize französischer Landschaften, den Genuss raffinierter Speisen und die Schönheit einer Stimmung.
Warum aber wollte Simone de Beauvoir den Roman „Die Unzertrennlichen“ nicht erscheinen lassen?
Warum aber wollte Simone de Beauvoir den Roman „Die Unzertrennlichen“ nicht erscheinen lassen? Wir können nur spekulieren. Vielleicht hatte sie ein schlechtes Gewissen gegenüber ihrer langjährigen Freundin, sie nicht nur überlebt, sondern ein mutiges, weitgehend selbstbestimmtes, herausragendes Leben geführt zu haben, wie die andere es sich gewünscht hätte.
Sylvie Le Bon de Beauvoir verwaltet den Nachlass Simone de Beauvoirs. Die Adoptivtochter, heute in den 80ern, war neben Jean Paul Sartre bis zum Tod 1986 ihre Gefährtin. In einem Interview, das die Herausgeberin des Romans „Die Unzertrennlichen“ dem englischen Guardian gegeben hat, sagt sie, Simone de Beauvoir hätte lange nach einer ähnlich nahen und vertrauten Freundin gesucht, wie Élisabeth Lacoin es für sie war. Um sie dann endlich in ihr, Sylvie Le Bon, zu finden.