Buchkritik

Natascha Wodin – Der Fluss und das Meer

Stand
Autor/in
Silke Arning

Mit ihrem ersten großen Erfolg „Sie kam aus Mariupol“ rückte Natascha Wodin das Schicksal vieler Zwangsarbeiter in den Mittelpunkt. Lebenslange Verwundungen, Fremdheit und die eigene Familie sind ihre zentralen Themen – so auch wieder in ihrem starken, neuen Erzählband „Der Fluss und das Meer“.

Dass viele Menschen in Deutschland eine Stadt mit dem Namen Mariupol bereits vor dem russischen Überfall auf die Ukraine verorten konnten, ist sicher Natascha Wodin zu verdanken.

Die Mutter im „Reisswolf zweier Diktaturen“

2017 erhielt sie für ihren Roman „Sie kam aus Mariupol“ den Preis der Leipziger Buchmesse und machte darin das Schicksal ihrer Mutter öffentlich, die als ukrainische Zwangsarbeiterin in einem Leipziger Rüstungsbetrieb landete. Eine Frau, die in „den Reisswolf zweier Diktaturen“ geraten war.

Folgt man Natascha Wodins Erzählung „Der Fluss und das Meer“ wäre das Mariupol von heute mit seinen vom Krieg zertrümmerten Häusern dieser Mutter  nicht einfach nur ein vertrauter Anblick.  „Es ist wie ein dritter Mordversuch an meiner Mutter“, schreibt sie.

Hinter dieser Anklage steht die Gewissheit: alles, was das letzte Jahrhundert an Grässlichem und Schändlichem zu bieten hatte, hat diese Frau gesehen und letztlich in den Suizid getrieben: den russischen Bürgerkrieg, eine grausame Hungersnot, Stalins Terror und schließlich die Verbrechen der deutschen Wehrmacht.

Ein freies Leben war ihr nicht vergönnt. Vor diesem Hintergrund ist die Vision der Ich-Erzählerin nur ein schaler Trost:

Zwischen 1960 und 1992 wurde in Deutschland der Rhein-Main-Donau-Kanal gebaut, in den auch der Teil der Regnitz integriert wurde, in dem meine Mutter einst ihr Leben gelassen hat. In meiner Vorstellung fließen seitdem Tag für Tag ein paar Tropfen der fränkischen Regnitz ins Asowsche Meer. Ganz allmählich kehrt meine Mutter mit dem Wasser der Donau zurück in ihre alte Welt, die Tropfen der Regnitz erreichen über Ungarn, Bulgarien, Rumänien das Schwarze Meer, passieren die Meerenge von Kertsch und gehen ein ins Asowsche Meer, in dem meine Mutter vielleicht einmal gebadet hat und dessen Wellen immer noch ans Ufer von Mariupol schlagen.

„Der Fluss und das Meer“- in ihrer Erzählung schnürt Natascha Wodin noch einmal die ganze Tragik, die das Leben ihrer Mutter bestimmt, in wenigen sehr dichten Momenten zusammen. Sie tut das in der für sie typisch lakonischen Art, beiläufig und zugleich voller Wucht. Dabei spannt sie den Bogen schmerzhaft bis in die Gegenwart.

Literarische Identitätssuche

Natascha Wodin hat diese Erzählung in diesem Jahr für die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung geschrieben. Weitere drei der insgesamt fünf Erzählungen wurden bereits zu verschiedenen Zeitpunkten in der Vergangenheit veröffentlicht, aber für die neue, jetzt im Rowohlt Verlag erschienene Ausgabe noch einmal überarbeitet.

Die Auswahl der Texte gleicht einer Suchbewegung, einer literarischen Identitätssuche. In der Erzählung „Nachbarinnen“ begegnen wir einer Ich-Erzählerin – unschwer als Alter Ego ihrer Autorin zu erkennen - , die durch Heirat ihre Existenz „als menschlicher Nachkriegsabfall“ hinter sich gelassen zu haben scheint.

Dank der neuen Verbindung findet sich das Zwangsarbeiterkind aus dem fränkischen Forchheim auf einmal in einem gehobenen Villenvorort von München wieder. Alles bestens, also. Nein. Wir sind in den 60er Jahren. Eins verwahrloste Nachbarhäuschen stört die Spießerseele, vor allem stört die Nachbarin selbst „in ihrem verwilderten“ Körper.

So was wie die „hätte man unter Hitler vergast“, schimpft die Vermieterin der Ich-Erzählerin.  Und während die Ich-Erzählerin mit Dirndl und Opernbesuch auf jede nur erdenkliche Weise um Anpassung und damit um Anerkennung ringt, erlaubt sich Frau Meisinger von nebenan mit ihrer provozierenden Erscheinung und ihrem ewig bellenden Hund einfach nur an der „falschen Stelle“ zu sein.

Die Geschichte nimmt kein gutes Ende. Selbstkritisch vermerkt die Ich-Erzählerin im Rückblick:

An Schlaflosigkeit leide ich bis heute, und in besonders unruhigen Nächten höre ich wieder Bellos Bellen. Ich bin wieder die junge Frau von damals, die glaubt, Ihre Mörderin zu sein, Frau Meisinger. Sie waren gestorben, weil ich es gewollt hatte. Ich hatte Ihren Tod nicht nur nicht verhindert, ich hatte ihn herbeigeführt – mit der Macht meines Wünschens, mit meinem unbändigen Willen, die Vergangenheit für immer aus meinem Leben zu verbannen. Ich hatte in Ihnen mich selbst umgebracht, diejenige, die ich nie wieder sein wollte.

Ein schonungsloses Geständnis, mit dem sich die Ich-Erzählerin direkt an die vor ihrer Nase in Einsamkeit und Elend verstorbene Nachbarin wendet. Ein Eingeständnis aber auch der eigenen Verwundung: zu erkennen, wie unheilvoll das Kindheitstrauma - Ausgrenzung, Diffamierung, Tod der Mutter, Gewalt des Vaters – fortwirkt.

Wieder ein Zeitsprung. In „Notturno“ umkreist Natascha Wodin eine lange, sehr intensive Brieffreundschaft, die die Ich-Erzählerin mit einem in der geschlossenen Psychiatrie untergebrachten Mann führt: Heiner Fuchs, der auch aus ihrer Heimat F. kommt, der wohl, in dieselbe Schule gegangen ist.

Das „Desaster“ beider Leben verbindet, es entwickelt sich eine zarte Romanze, die durch die gemeinsame Leidenschaft für Musik, für Schuberts Notturno insbesondere, an Fahrt gewinnt. Aber auch diese Umarmung misslingt, scheitert an der Unfähigkeit, die eigenen inneren Ketten zu sprengen.

Existentielle Erfahrung in Sri Lanka

Mit der Erzählung „Das Singen der Fische“ nimmt uns Natascha Wodin mit auf eine Reise nach Sri Lanka, irgendwann in den 1970er Jahren. Eine existentielle Erfahrung: die Ich-Erzählerin schleppt sich von Fieber, Durchfall und Erbrechen geplagt durch eine paradiesische Hölle.

Armut und Elend oft gepaart mit einer zweifelhaften Leichtigkeit des Lebens werfen bei ihr wieder einmal die alten bohrenden Fragen auf verbunden mit der Erkenntnis:

Was konnte ich als Kind russisch-ukrainischer Zwangsarbeiter gemeinsam haben mit den deutschen Studenten der 68er-Generation? Mein Deutschland war nie das ihre gewesen, sie rebellierten gegen Verhältnisse, die ich nicht kannte, gegen Täter-Eltern, die nicht die meinen waren, gegen Wohlstandseltern, die ich nie gehabt hatte. Ich wollte so sein wie sie, ich wollte dazugehören, aber ich konnte nicht zu etwas gehören, das ich in seinem Wesen weder kannte noch verstand. Ich gehörte zu gar nichts. Weder zu Deutschland noch zu Russland oder zur Ukraine und immer weniger auch zu mir selbst. Ich gehörte zu Sri Lanka. Hier war ich in meiner eigenen inneren Wildnis angekommen, in genau jener Fremde, in der ich immer schon war.

„Der Fluss und das Meer“ – der neue Erzählband von Natascha Wodin schlägt inhaltlich zwar keine neuen Kapitel auf. Es ist die Suche nach dem inneren Grund, ein Ringen um Erkenntnis, eine Sehnsucht nach Heilung. Das ist schonungslos – für die Ich-Erzählerin, bisweilen auch für die Leserinnen und Leser.

Doch es ist eine starke, nachhaltige Prosa: wortkarg und wortgewaltig zugleich.

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Silke Arning