Die französische Schriftstellerin Annie Ernaux erhält den Literaturnobelpreis 2022. Das gab die Schwedische Akademie am Donnerstag in Stockholm bekannt.
Sie bekomme den Preis „für den Mut und die klinische Schärfe, mit der sie die Wurzeln, Entfremdungen und kollektiven Beschränkungen der persönlichen Erinnerung aufdeckt“, sagte der Ständige Sekretär der Akademie, Mats Malm, bei der Bekanntgabe der Preisträgerin.
Kommentar von SWR Literaturchef Frank Hertweck zum Nobelpreis für Annie Ernaux:
Der Literaturnobelpreis 2022 geht an die französische Autorin Annie Ernaux. Das ist keine ganz große Überraschung. Das Überraschende ist vielleicht, dass sie den Preis gerade in diesem Jahr erhält. Man hatte doch sehr mit einer Auszeichnung für den schwer verletzten Salman Rushdie gerechnet, mit einem politischen Signal für die Unbeugsamkeit von Dichtung, mit einem Plädoyer für Redefreiheit, nicht ganz unwichtig in der augenblicklichen Situation im Iran.
Annie Ernaux ist die große Dichterin des Autobiographischen
Annie Ernaux verdient den Preis allemal. Sie ist die große Dichterin des Autobiographischen, ihr gelingt es, ihr eigenes Leben und das ihrer Eltern seismographisch zu lesen – als Symptom ihrer Herkunft aus bescheidensten Verhältnissen. Die Eltern betrieben in Yvetot in der Normandie einen Krämerladen.
Als 2017 Annie Ernaux' Buch „Die Jahre“ auf Deutsch erschien, war die Kritik elektrisiert: Hier schreibt eine über sich ohne ICH zu sagen. Denn da, wo sie herkommt, spielt das Ich keine Rolle mehr, das ICH ist in Paris zuhause, im Bürgertum, im Großbürgertum. Nicht in der Normandie, nicht bei einem Vater, der auch mal als Knecht gearbeitet hat.
Auch die anderen Bücher umkreisen Ernaux' Biographie, sie arbeiten sich an ihr ab, fassen Details, analysieren, reflektieren.
2019 erschien in Deutschland „Der Platz“, der Text über den Vater. Im gleichen Jahr „Die Frau“ über ihre Mutter. 2020 „Die Scham“ über eine abgründige Bedrohung der Mutter durch den Vater. 2021 „Das Ereignis“ über die ungewollte Schwangerschaft und die demütigende Abtreibung. Und man darf sagen, selten ist eine Autorin so einhellig gelobt und gefeiert worden.
Am 11. Oktober erscheint mit „Das andere Mädchen“ ein weiterer autobiographischer Roman Ernaux' in deutscher Sprache.
Annie Ernaux ist eine Vorläuferin des „Klassismus“
„Klassismus“ nennen wir ein Literaturkonzept, das die Beschädigungen durch die Herkunft aus der Arbeiterklasse spiegelt und in Literatur verwandelt. Annie Ernaux gehört zu seinen Vorläufern, sie sammelt das Material von denen da unten, die Sprechwiesen, die Codes, die Gesten, ohne die individuellen Biographien aus den Augen zu verlieren.
Oft umfassen ihre Bücher kaum hundert Seiten, sie sind sprachlich von einer unglaublichen Nüchternheit. Aber diese Lakonik ist errungen, sie ist das Ergebnis eines mühsamen Prozesses.
Denn die Texte erzählen von schlimmen Erfahrungen, die sich Annie Ernaux eingebrannt haben. Genau darin liegt ihre Spannung: Der brutalste Akt, die erniedrigendste Scham werden ungeschönt und schonungslos benannt, weil die Sprache Annie Ernaux' sie gleichsam abkühlt und einfriert. Eine Art brennendes Eis.
Reduktion und Lakonie sind bei Ernaux die sprachlichen Mittel des Erinnerns
Dabei ist ihr die Sprache nie gewiss, auch dies ein Erbe ihrer Herkunft. Wer französisch spricht, spricht noch nicht französisch wie es sich gehört. Französisch ist eine Klassensprache. Darum hat auch ihre Sprache ein politisches Ansinnen.
Antirhetorik als Mittel im Klassenkampf. Ihr Erinnerungsprojekt will es mit dem von Marcel Proust aufnehmen, indem sie es durch Reduktion und Lakonie unterläuft. Das macht sie zu einer so besonderen Autorin.
Annie Ernaux hat für die gesellschaftliche Sprachlosigkeit eine Sprache gefunden
Sie weiß, dass sie nicht mehr zur Welt ihrer Eltern gehört. Der Riss des Aufstiegs bleibt irreparabel. Aber genau so wenig passt sie zum Pariser Literaturbetrieb.
Verrat an der Herkunft ohne sicheren Hafen, nirgends dazugehörig, so könnte man ihre Position beschreiben. Ihr ist ein großes Paradox gelungen: Sie hat für die gesellschaftliche Sprachlosigkeit eine Sprache gefunden. Jetzt hat sie für dieses Paradox den Literaturnobelpreis erhalten.
Literaturnobelpreisträger 2021
Im letzten Jahr erhielt der tansanische Schriftsteller Abdulrazak Gurnah den Literaturnobelpreis "für seine kompromisslose und mitfühlende" Darstellung "der Folgen des Kolonialismus", so der Ständige Sekretär der Schwedischen Akademie, Mats Malm, bei der Bekanntgabe.
Preisgeld
Der Literaturnobelpreis wird seit 1901 vergeben. Er ist aktuell mit 10 Millionen schwedischen Kronen (ca. 914.000 Euro) dotiert.
Deutsche Literaturnobelpreisträger*innen
Bisher haben acht deutsche Schriftsteller*innen den Literaturnobelpreis erhalten. Herta Müller (2009), Günter Grass (1999), Heinrich Böll (1972), Hermann Hesse (1946), Thomas Mann (1929), Gerhart Hauptmann (1912), Rudolf Eucken (1908) und Theodor Mommsen (1902).
1966 ging der Preis zudem an die Schriftstellerin Nelly Sachs. Die gebürtige Deutsche, die als Jüdin 1940 aus Deutschland fliehe musste, hatte zu diesem Zeitpunkt jedoch die Schwedische Staatsangehörigkeit angenommen.
Buchkritik Annie Ernaux - Die Scham
Scham ist das nagende Gefühl der eigenen Unwürdigkeit. Annie Ernaux analysiert die Scham an sich selbst, indem sie weit zurück geht in eine kaum fassbare Episode ihrer Kindheit und in eine Vergangenheit, die nicht vergehen will.
Rezension von Kathrin Hondl.
Aus dem Französischen von Sonja Finck
Bibliothek Suhrkamp
ISBN 978-3-518-22517-2
110 Seiten
18 Euro
Buchkritik Annie Ernaux - Der Platz
"Der Platz" von Annie Ernaux hat einen neuen Ton in die französische Literatur gebracht. Als "Autofiktion" wurde dieses Schreiben bezeichnet. 1983 erstmals erschienen, kann man das meisterhafte Buch über den Vater der Autorin nun endlich auf Deutsch entdecken.
Rezension von Ulrich Rüdenauer
von Sonja Finck ins Deutsche übersetzt
Bibliothek Suhrkamp
ISBN 978-3-518-22509-7
96 Seiten
18 Euro