Die russische Reporterin Katerina Gordeeva hat Opfer des russischen Krieges gegen die Ukraine getroffen. Sie lässt die Menschen von ihrem Leid, ihrer Verzweiflung und ihrem Hass erzählen - ungefiltert und schonungslos. Ein schwer erträgliches Buch von ungeheurer Wucht.
Seit dem Überfall Russlands auf die Ukraine gibt es täglich aktuelle Meldungen von der Front. Welche Einheiten wo vorgerückt sind oder zurückgedrängt wurden, welche Ziele zerstört oder verfehlt wurden. Tote und Verletzte werden gezählt. Experten geben Auskunft darüber, wie sich der Frontverlauf in den nächsten Wochen verändern könnte.
Das Buch, das die russische Reporterin Katerina Gordeeva geschrieben hat, ist anders. Es bringt diesen Krieg viel näher als die allbekannten Berichte, unerträglich nah. Es zeigt, was der Krieg anrichtet. Die schwangere Raja wollte mit ihrem Mann und ihrer Tochter aus Rubischne – im Osten der Ukraine, im Oblast Luhansk – fliehen, bevor die Russen angriffen. Doch sie schafften es nicht.
„Es kam direkt von oben. Erst hörte man ein Pfeifen, dann wurde es sehr heiß, dann gab es einen lauten Knall“, erinnert sich Raja. „Ich umfasste instinktiv meinen Bauch, und Petja, Pjotr, mein Mann, umfasste Ilana. Zumindest denke ich das, denn so lagen sie zusammen da. Nur dass sie schwarz waren. Schwarzes Fleisch.“
Nur eine große Müdigkeit
Gordeeva begegnet Raja in Berlin, sie lebt hier mit ihrer vier Wochen alten Tochter Ljuda. Die Wohnung, die ihr freiwillige Helfer vermittelt haben, besteht nur aus einem Tisch, zwei Stühlen, einem Kinderbett und einem Klappbett. Raja weiß nicht, wie und wozu sie weiterleben soll: „Ich habe keine Liebe mehr in mir, kein bisschen. Erstaunlicherweise aber auch keinen Hass. Nur eine sehr große Müdigkeit.“
Katerina Gordeeva hat ihre Gesprächspartnerinnen, zumeist sind es Frauen, in Flüchtlingslagern in Russland und in der Ukraine getroffen, aber auch in Dresden, Warschau und in Südspanien, überall dort, wo die Flüchtlinge Unterschlupf gefunden haben. Die Frauen erzählen davon, wie der Krieg ihnen ihre Liebsten genommen und ihr altes Leben zerstört hat. Einige haben jeden Lebensmut verloren, andere hält nur ein unbändiger Hass aufrecht.
„Niemand kennt die ganze Wahrheit“
Gordeeva gelingt es, das Leid und die Verzweiflung ihrer Gesprächspartnerinnen sehr nahe zu bringen. Das ist die große Qualität ihres Buches. Die Autorin hält sich dabei mit Einschätzungen zurück und verzichtet auf eine Einordnung dessen, was sie hört. Sie konzentriert sich ganz auf die Menschen, die sie trifft, und darauf, was sie erfahren und erlitten haben.
Sind es russische oder ukrainische Soldaten gewesen, die in Mariupol in eine Menschenmenge geschossen haben? Es bleibt offen. Für Gordeeva ist die Frage zwar nicht unerheblich, aber zweitrangig. „Niemand kennt das komplette Bild, die ganze Wahrheit“, sagt sie in einem Interview. „Die einzige Wahrheit ist, dass es eine Tragödie ist.“
Das Buch versammelt eine Vielzahl unterschiedlicher, durchaus auch unerwarteter und selten gehörter Stimmen. Gordeeva trifft die Mutter eines gefallenen russischen Soldaten, die Putin den Kampf angesagt hat. Und sie spricht mit Inga, einer ukrainischen Frau, die ihren Mann und ihren Sohn verloren hat, und die nichts mehr fühlt, nur noch Hass.
Aber Gordeeva interviewt auch Schenja, einen Mann aus Kupjansk in der Nähe von Charkiv, das erst an die Russen fiel und dann von den Ukrainern zurückerobert wurde. Ihm ist es egal, wer die Stadt regiert, sagt er: „Ich will einfach nur, dass niemand mehr schießt. Ich will leben, verstehst du?“
Nicht zuerst Gerechtigkeit, sondern das nackte Überleben
Die Menschen, die Gordeeva ihre Leidensgeschichten erzählt haben, stehen ganz unter dem Eindruck des Erlebten. Es fehlt der zeitliche Abstand und somit ein Filter. Genau das verleiht – zusammen mit dem Geschick der Autorin – diesen Erzählungen eine ungeheure Wucht. Als Leser ist man mit den Menschen in diesem Krieg und begreift: Es geht nicht zuerst um Gerechtigkeit, sondern um das nackte Überleben.
In einem Flüchtlingslager in Rostow trifft Katerina Gordeeva die 86 Jahre alte Taissija. Die greise Frau, die aus Donezk stammt, versteht nicht, was sie im Süden Russlands soll. Was der Krieg – wie jeder Krieg – anrichtet, sieht sie hingegen mit großer Klarheit: „Weißt du, Kindchen, was am Krieg so gefährlich ist? Selbst wenn dich keine Bombe trifft, frisst er sich ins Herz“, sagt sie.
Das Buch von Katerina Gordeeva erzählt genau davon mit enormer Eindringlichkeit und Präzision. Man spricht häufiger und vielleicht allzu leichtfertig davon, dass ein Buch erschütternd sei. Dieses ist es.
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