In seinen Essays der Jahre 2014-2023 prangert der ukrainische Schriftsteller Juri Andruchowytsch das mangelnde westliche Verständnis für die Ukraine an und fordert, mit westlicher Hilfe das imperialistische Russland zu besiegen.
Man hätte auf Juri Andruchowytsch hören sollen. Stetig, eindringlich, fast flehentlich warnte der ukrainische Schriftsteller den Westen vor dem aggressiv-imperialistischen Charakter von Putins Russland. Schon vor der großangelegten Invasion der Ukraine am 24. Februar 2022 hatte der Kremlherr die Krim annektiert und den Krieg im Donbas entfesselt, aber statt dem Aggressor entschieden entgegenzutreten, setzte Europa auf Appeasement und wollte, wie Andruchowytsch 2019 in einem seiner Essays schreibt, die jetzt unter dem Titel „Der Preis unserer Freiheit“ erschienen sind, „Russland nicht erzürnen.“
Entspannte Beziehungen zu einem Verbrecher
Eine Fehlreaktion, denn es sei unmöglich, Russland nicht zu erzürnen: „Es besteht ganz aus Eifersucht, Bluffs und Xenophobie. Wut, Beleidigtsein und Neid sind sein Dauerzustand." Andruchowytsch sparte nicht an drastischen Worten, um die Europäer aufzurütteln. Wie hätten sie nur glauben können, „entspannte Beziehungen zu einem Verbrecher“ aufbauen zu können?
Unter dem Eindruck des aktuellen Krieges erscheinen Andruschowytschs Reden, Artikel und Vorträge der Jahre 2014 bis 2023 geradezu prophetisch. Ebenso scharfsinnig wie anschaulich zeichnet der Schriftsteller die Entwicklung in der Ukraine von der Revolution der Würde 2014 bis in die Gegenwart nach, für die, wie er kritisiert, Europa nicht das angemessene Interesse und Verständnis aufbrachte.
Putinversteher dominierten lange die öffentliche Diskussion, auf die Krimannexion antwortete der Westen mit halbherzigen Sanktionen und Deutschland mit dem fatalen Bau der Nordstream-2-Pipeline. Die unverhohlenen Drohungen Putins nahm man nicht ernst, gab sich stattdessen der Illusion hin, Russland durch Handelsverbindungen in die europäische Friedensordnung einbinden zu können. Europäische Profitinteressen unterminierten die Wahrnehmung der Wirklichkeit, und der Kreml unterstützte die Selbsttäuschungen westlicher Politik durch Lügen und Desinformation.
Russischer Terror und das Versagen des Westens
Andruchowytsch weist bitter auf die russischen Terrormethoden hin, die seit 2014 nicht nur auf dem Maidan angewandt wurden, sondern in den besetzten Gebieten zum Alltag gehörten – und das alles noch lange vor den Gräueltaten in Butscha: Ermordungen, Folterungen und Vergewaltigungen von Ukrainern, die sich den Russen nicht unterwerfen wollten. Europa aber habe sich „durch eine Mauer von Unverständnis und Gleichgültigkeit von der Ukraine abgeschottet.“
Der Kriegsbeginn bestätigte Andruchowytschs Analyse des geopolitischen Versagens des Westens. In seinen seitdem veröffentlichten Texten musste er seine Beschreibung Russlands nicht korrigieren, nur der Ton wird noch schärfer, wenn er die russischen Kriegsverbrechen im Detail schildert und zu dem Schluss kommt, Russland habe sich in einen vollwertigen faschistischen Staat verwandelt: „Russland ist ein Terrorstaat. Die Bevölkerung Russlands hat sich erfolgreich entmenschlicht.“
In seinem Essay „Der Preis der Zukunft“ skizziert Andruchowytsch die lange, bis ins 17. Jahrhundert zurückreichende Geschichte der ukrainischen Abhängigkeit von Russland. Die aktuelle Barbarei der russischen Truppen habe ihre Wurzeln in der Sowjetunion, die einst den Holodomor in der Ukraine entfesselte und politische Gegner durch Massenerschießungen ermordete. Die Massaker in Butscha seien Teil einer totalen Unterwerfungsstrategie und des Versuchs, die Freiheit in der Ukraine zu ersticken.
Der einzige Weg: die bedingungslose Kapitulation Russlands
Aber was kann der Westen, was kann Europa tun, um den russischen Krieg zu stoppen? Andruchowytsch sagt es klipp und klar: „Der einzige Weg zur Heilung führt über eine totale Niederlage, eine totale Katastrophe von allem, was russische Staatlichkeit heißt.“ Kein fauler Kompromiss, kein neuerliches Appeasement, nicht Verhandlungen könnten Russlands Aggression beenden, sondern nur ein militärischer Sieg über das Land, dessen bedingungslose Kapitulation, am besten erreicht auch durch den Einsatz westlicher Armeen. Danach müsse Russland entmilitarisiert werden, in einem Tribunal sei es für seine Verbrechen zur Rechenschaft zu ziehen, die Ukraine müsse NATO-Mitglied werden.
Juri Andruschowytschs Essays „Der Preis unserer Freiheit“ sind ein ebenso engagiertes wie eindringliches Plädoyer, sich für die Verteidigung der Ukraine einzusetzen und die pazifistischen Illusionen abzuschütteln, mit denen vor allem die deutsche Öffentlichkeit sich allzu lange über den imperialistischen Charakter Russlands hinweggetäuscht hat.
SWR Bestenliste Juri Andruchowytsch: Radio Nacht
Der Musiker Josip Rotsky lebt im Schweizer Exil, wo er sich als Barpianist durchschlägt. Als der Diktator seines Landes in eben diesem Hotel zu Gast ist, trifft Rotsky eine Entscheidung. Wild geht es zu, wie immer bei Andruchowytsch.
Buchkritik Juri Andruchowytsch - Die Lieblinge der Justiz
Juri Andruchowytsch stellt in seinem jüngsten Roman "Die Lieblinge der Justiz" die Frage, wer blutrünstiger ist: Der Mörder oder die Gesellschaft, in der er lebt.
Rezension von Michael Au.
Suhrkamp Verlag
ISBN 978-3-518-42906-8
299 Seiten
23 Euro
Gespräch Andrej Kurkow – Tagebuch einer Invasion
Tagebuch schreiben in Zeiten des Krieges – das machen augenblicklich viele ukrainische AutorInnen. „Die Arbeit an meinem neuen Roman ruht“, erzählt Andrej Kurkow, Präsident des ukrainischen PEN, im Gespräch mit SWR2-Literaturredakteurin Katharina Borchardt. Stattdessen schreibt er ein laufendes Tagebuch, das er inzwischen auch zum Teil veröffentlichte. Es heißt: „Tagebuch einer Invasion“.