Buch der Woche

Inès Bayard - Scham

Stand
Autor/in
Kristine Harthauer

Ein schonungsloser Beitrag aus Frankreich zur #Metoo-Debatte: Inès Bayard erzählt rau und brutal, wie das gutbürgerliche Leben Maries nach einer Vergewaltigung aus den Fugen gerät.

Sie wird zur Mörderin. Doch fast schlimmer als ihre Tat scheint die Ignoranz ihrer engsten Vertrauten.

Der Roman beginnt mit einer Szene des Grauens

Als die Autorin Inès Bayard mit dem Schreiben ihres ersten Romans anfing, so erzählt sie in einem Interview, habe sie mit dem Ende der Geschichte begonnen. Dieses Ende ist ein Tableau des Grauens: Rund um einen Esstisch sitzen und liegen drei Leichen einer bürgerlichen Kleinfamilie.

Die Mutter hat ihr Kind, ihren Ehemann und sich beim Abendessen vergiftet.

Autorin Inès Bayard
Autorin Inès Bayard

Marie hatte schon darüber nachgedacht, ihren Sohn zu töten, viele verschiedene Male und auf verschiedene Arten. Sie war fest entschlossen. Tag für Tag hatte das Kind mit dem falschen unschuldigen Blick ihr Gewissen zu diesem Mord getrieben. Aber die Umstände hatten ihr bisher nie erlaubt, es zu Ende zu bringen, meistens waren praktische Probleme dazwischen gekommen. Nun hatte sie ihren kleinen Jungen getötet und das war nur gerecht.

Das Verbrechen hat die Autorin, ähnlich wie in einem Krimi, an den Anfang des Romans gestellt, es steht damit wie eine Klammer am Anfang und am Ende der Geschichte.

Wunschkind aus einer glücklichen Ehe oder das Kind des Vergewaltigers?

Nach und nach erfährt man als Leser*in, woher dieser Hass der Protagonistin Marie auf ihren Sohn kommt. Eigentlich sollte der kleine Thomas ein Wunschkind sein, das Ergebnis der glücklichen Ehe von Marie und Laurent.

Inès Bayard zeichnet eine fast schon klischeehafte, heile Pariser Welt, in die die Tragödie hinein bricht: Marie wird Opfer einer Vergewaltigung. Kurz danach ist sie schwanger. Sie ist der festen Überzeugung, das Kind ihres Vergewaltigers in sich zu tragen.

Erinnerungen an diese Nacht blitzen plötzlich in ihrem Gedächtnis auf. Sie sieht den Mann vor sich, wie er mit seinem vor Erregung schwitzendem Körper mit einem langen, im ersten Moment endlos scheinenden Röcheln in ihr zum Orgasmus kommt. Marie weiß nicht, aus welchem unerklärlichen Grund ihr dieser Augenblick entfallen ist, warum sie nichts unternommen hat, um das Schlimmste zu verhindern, warum sie nicht in einer Nachtdienstapotheke die Pille danach […] besorgt hat. Stattdessen ist sie nur nach Hause gegangen […] Sie schämt sich, gibt sich die Schuld. Kommt sich dumm vor, weil sie nicht anders reagiert hat.

In knappen und harten Sätzen schildert Inès Bayard, wie sich Marie immer mehr vor ihrer Familie zurückzieht, sich vor ihrem schwangeren Körper ekelt und vor ihrem Mann, der völlig blind zu sein scheint für das veränderte, abweisende Wesen seiner Frau.

Sie schweigt – aus Angst vor den Konsequenzen

Marie trägt nicht nur das vermeintliche Kind ihres Vergewaltigers in sich, sondern auch das Geheimnis um diese Tat. Sie bringt nicht den Mut auf, jemandem davon zu erzählen, denn sie fürchtet die Konsequenzen.

Ist es die Angst vor dem Verlassenwerden, das sie so fürchtet, die Aufgabe ihrer emotionalen und materiellen Sicherheit, an die sie sich über die Jahre so gewöhnt hat, das Hängen an Erinnerungen vergangenen Glücks und geteilter Liebe, der krankhafte, unterbewusste Adrenalinstoß, den ihr das Geheimnis verschafft. Vielleicht sind es all diese Gründe zusammen.

Marie frisst den Schmerz in sich hinein und schafft eine Maschinerie aus Lügen, Verheimlichungen und Wut. Und sie klammert sich an die Hoffnung, die Zeit würde ihre psychischen und physischen Wunden heilen.

Die Familie übersieht alle Warnsignale

Als Leser*in ist einem klar, dass das nicht so einfach funktionieren wird. Stattdessen führen die Ereignisse in einem atemlosen, harten Rhythmus in eine Abwärtsspirale, die in der Ermordung ihrer Familie mündet.

Bedrückend ist nicht allein, warum Marie nicht ihre Vergewaltigung anzeigt oder jemandem davon erzählt. Ihre Scham und der Schmerz sind zu lähmend. Fast noch bedrückender und unglaublicher ist es, dass ihre Familie die Warnsignale übersieht.

Ihre Schwester hatte nicht einmal nach der Identität des Vergewaltigers gefragt. […] Auch ihre Mutter hatte keine Fragen gestellt. Selbst als sie gesehen hatte, wie sich ihre eigene Tochter im Dreck suhlt, war sie nicht in der Lage, eine Erklärung zu verlangen. […] Aus Vorsicht gehen alle schweigend durchs Leben. Die Vergewaltigung verschwindet in der Gegenwärtigkeit.

Die Ignoranz von Maries Familie ist verstörend. Kaum ist der Status quo des kleinbürgerlichen Glücks bedroht, wird lieber geschwiegen. Und Laurents Verdacht, dass mit seiner Frau etwas nicht stimmt, erhärtet sich nicht weiter, solange er weiterhin regelmäßig mit ihr schlafen kann.

Die brutale Sprache entspricht der Gewalt der Tat

Mit ihrem Debütroman landete Inès Bayard gleich auf der Longlist des Prix Goncourt, dem wichtigsten französischen Literaturpreis. 2018, als „Scham“ in Frankreich erschien, war das Beben der #MeToo-Debatte noch lange nicht vorbei.

In Online-Foren las die 28-Jährige Autorin zahlreiche Berichte von vergewaltigten Frauen. Mit ihrem direkten und brutalen Schreiben habe sie, so sagte Inès Bayard in einem Interview, die Gewalt nachahmen wollen, die gegen diese Frauen ausgeübt wurde.

Für Marie sind Mord und Selbstmord der einzige Ausweg

Die deutsche Übersetzung verliert nichts von dieser Härte. Stakkatoartig reihen sich die Sätze aneinander und zeigen eine gebrochene Frau, die sich um ihr Kind nur so viel kümmert, wie es braucht, um eine scheinbare Normalität aufrechtzuerhalten. Eine Mutter, der als einziger Ausweg aus ihrem Wahnsinn nur der Mord und Selbstmord bleiben.

Es wäre anmaßend, als Leser*in zu urteilen, ob es denn nicht einfacher wäre, würde Marie ihr Schweigen brechen. Für sie gibt es diese Option nicht, und warum es sie nicht gibt, schildert „Scham“ in einer schmerzlichen und eindrücklichen Sprache. Ganz zum Schluss erfährt man dann doch noch, wessen Sohn Thomas ist. Doch da ist die Katastrophe schon geschehen.

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Autor/in
Kristine Harthauer