In seinen geopolitischen Untersuchungen „Welt in Aufruhr" fragt Herfried Münkler danach, wie sich in Zeiten des russischen Krieges gegen die Ukraine und des Konflikts zwischen den USA und China eine zerstörerische Anarchie der Staatenordnung im 21. Jahrhundert vermeiden lässt.
Dass sich die „Welt in Aufruhr“ befindet, ist spätestens seit Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine für jedermann sichtbar geworden. Eine große, nach dem Ende des Kalten Krieges gehegte Hoffnung hat sich zerschlagen: dass sich nämlich eine internationale Friedensordnung herstellen ließe, in der universelle Rechtsnormen anerkannt werden und die großen Mächte im Rahmen einer liberalen Weltwirtschaft kooperieren.
Die USA, als letzte verbliebene Supermacht, konnte die Rolle des „Hüters“ einer unipolaren Weltordnung nach ihren gescheiterten Interventionen im Irak und Afghanistan nicht einnehmen, stellt Herfried Münkler fest. China ist zum mächtigen Gegenspieler geworden und die Europäische Union zwar wirtschaftlich stark, aber geopolitisch schwach, ja womöglich „in die Falle eines weltpolitischen Biedermeier gegangen“, weil es zu lange der Illusion des „Frieden schaffen ohne Waffen“ anhing.
Es droht eine „Anarchie der Staatenwelt“
Die Friedensdividende ist heute aufgezehrt, es droht eine „Anarchie der Staatenwelt“ mit der Gefahr neuer Kriege. Wie diese möglicherweise zu bannen sein könnte, kann man als Leitfrage von Herfried Münklers Buch über „die Ordnung der Mächte im 21. Jahrhundert“ verstehen. Münkler holt dabei weit aus und referiert eine Reihe politikwissenschaftlicher Modelle zur Einhegung von Konflikten – vom griechischen Historiker Thukydides über den römischen Kriegstheoretiker Flavius Vegetius bis zu den modernen Soziologen Auguste Comte und Herbert Spencer – um zu überzeugenden Deutungen des aktuellen Krieges in der Ukraine zu kommen: Weder gelang es, schreibt er, das revisionistisch gesinnte Russland durch wirtschaftliche Verflechtung, vor allem den Gas- und Ölhandel, in eine europäische Friedensordnung einzubeziehen, noch war – nach Russlands Annexion der Krim - die Appeasement-Strategie des sog. Minsk-Prozesses erfolgreich.
Angst der Eliten vor einer Freiheitsbewegung in Russland
Die Hoffnung, dass wachsender Wohlstand in Russland zur Integration des Landes in Europa führen könnte, erfüllte sich nicht, weil die russischen Oligarchen das mit Rohstoffen erzielte Vermögen für sich abzweigten, während die Bevölkerung verarmte. „Wut und Zorn“ wuchsen und ließen sich von Putin für seine imperialistische Strategie instrumentalisieren.
Entscheidend aber sei für seinen Entschluss, die Ukraine anzugreifen, meint Münkler, nicht die angebliche Einkreisungsangst vor der NATO gewesen, sondern die Angst der mafiösen russischen Elite, die ukrainische Freiheitsbewegung könne auf Russland übergreifen und damit ihre materiellen Privilegien in Frage stellen.
„Der Krieg in der Ukraine wäre demzufolge ein Präventivkrieg gegen Freiheit und Demokratie und vor allem gegen den Wunsch der Menschen nach einem besseren materiellen Leben.“
Münklers schlüssige Diagnose impliziert, dass Putins Krieg quasi unvermeidbar war. Er stellt ihn in den größeren welthistorischen Zusammenhang einer Auseinandersetzung zwischen der lange gewachsenen Freiheits- und Aufklärungskultur des atlantischen Westens und der eurasischen Kultur eines „Cäsaropapismus“, in der die Trennung zwischen geistlicher und weltlicher Macht nie vollzogen wurde. Die Propagandisten des neuen russischen Imperialismus beziehen sich auf zaristische Traditionen und eine slawische Spiritualität. Aber ihre Behauptung einer Zusammengehörigkeit der sogenannten russischen Welt wird durch den brutalen Vernichtungsfeldzug gegen das angebliche Brudervolk in der Ukraine vollständig widerlegt.
Fünf Großmächte sollen „Direktorium der globalen Ordnung“ bilden
Den Konflikt zwischen den östlichen Autokratien und westlichen Demokratien sieht Münkler vor allem durch die geopolitischen Großmächte USA und EU versus China und Russland bestimmt. Indien schreibt er - als fünftem Akteur - die mögliche Rolle einer ausbalancierenden Macht in einer multipolaren Weltordnung zu. Die fünf großen Mächte sollten ein „Direktorium der globalen Ordnung“ bilden. Nur so lasse sich eine Anarchie der Staatenwelt und ein drohender Krieg zwischen den USA und China vermeiden.
Für Deutschland folgert Münkler, es müsse mehr Verantwortung übernehmen für eine Stärkung der EU: Dort sollte zukünftig eine Fünfergruppe aus Deutschland, Frankreich, Spanien, Italien und Polen die Außen- und Sicherheitspolitik steuern. Außerdem gelte es Abschied zu nehmen von den Blütenträumen einer pazifistischen, wertegeleiteten Außenpolitik.
Herfried Münklers geopolitische Studie zur Ordnung der Mächte im 21. Jahrhundert ist ebenso wissenschaftlich solide wie für nicht akademische Leser verständlich geschrieben. Ein wichtiges Buch von enormer geistiger Reichweite, das einem hilft, die Ursachen des aktuellen russisch-ukrainischen Krieges zu verstehen und Ideen entwickelt, wie eine künftige Friedensordnung in einer multipolaren Welt aussehen könnte.
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