Am 2. Juli 2024 ist Friedrich Gottlieb Klopstocks 300. Geburtstag. Der Begründer der Empfindsamkeit war seinerzeit gefeiert, der Ruhm ist heute jedoch verblasst. Über einen Dichterstar.
Klopstock und die „Swifties“
Klopstock, wer war das nochmal? Dabei war der Mann einmal Kult. 50.000 Trauernde sollen bei seinem Begräbnis in Hamburg 1803 dabei gewesen sein.
Seine Gedichte wurden kopiert, von Hand zu Hand weitergereicht, es entstand so etwas wie eine Bubble von Gleichgesinnten, eine ganz neue lyrische Öffentlichkeit, wie man das heute von den erstaunlich filigranen Textexegesen der zarten Seelen der „Swifties“ kennt.
Kurz: Gedichte sind Briefe oder Nachrichten an Dich. Das war damals historisch neu und hat einer Epoche einen Titel gegeben: die Empfindsamkeit.
Weinen mit Klopstock
Mit seinem Namen konnte man Liebesschwüre abkürzen. Sein Zeitgenosse Johann Wolfgang Goethe besiegelte in seinem Roman „Die Leiden des jungen Werthers“ die Annäherung des Helden und der angebeteten Charlotte, nach einem Gewitter am Fenster stehend, mit dem Ausruf „Klopstock!“
Damit war alles gesagt: die Tränen flossen. Oder in Goethes Worten:
Der Großsprecher
Klopstock war sich seiner Bedeutung schon früh sicher. Er war das älteste von 17 Kindern, hochbegabt, sendungsbewusst, großsprecherisch. Und er stammte aus einer pietistischen Familie, was für seinen Umgang mit Literatur nicht unwichtig war.
Mit seiner Abiturrede am Eliteinternat von Schulpforta im heutigen Sachsen-Anhalt, die er auf Latein hielt, brachte sich der 18-jährige unter enormen Zugzwang. In der Übersetzung von Arno Schmidt:
Verstanden? Natürlich lebt DER schon, er heißt nämlich Klopstock und hält gerade eine Rede. Er will unsterblich werden, der Künder Deutschlands, anerkannt vom Menschengeschlecht, ja, auch noch von Gott. Und wie? Durch ein großes christliches Epos.
Der Elon Musk der Dichtkunst
Dazu muss man wissen: Das Epos galt damals als die altehrwürdigste Dichtungsgattung und „christlich“ bedeutete darüber hinaus: Kein Inhalt ist wichtiger und relevanter. Es ging also ums große Ganze. Und es gab mächtige Vorbilder: Dantes „Göttliche Komödie“ aus dem 14. Jahrhundert, geschrieben bahnbrechend auf Italienisch, dann John Miltons „Paradise Lost“, entstanden im England des 17. Jahrhunderts.
Hier haben bedeutende Dichter versucht, die Bibel weiterzuschreiben – mit den Mitteln der Literatur.
Und weil der junge Mann an der Schule Latein und Altgriechisch gelernt und sich für die antiken Autoren begeistert hatte, packte er später auch noch das Versmaß der homerischen Dichtung drauf, den Hexameter. Größenwahnsinniger geht’s nimmer. Sozusagen der Elon Musk der Dichtkunst.
Eine Dichtung so groß wie Gott
Das Ergebnis: Das Epos „Messias“, das nach und nach veröffentlicht wurde und erst 1773 zum Abschluss kam, da war Klopstock schon fast 50. Und er hatte das große Glück, einen Mäzen gefunden zu haben, der geduldig seinen Großdichter unterstützte, weil der sonst wahrscheinlich verhungert wäre: der dänische König und gerade nicht Friedrich der Große, der lieber französisch las.
Die Messiade umfasst fast 20.000 Verse in zwanzig Gesängen und gilt als einer der großen ungelesenen Texte der deutschen Literatur. Mit ihm hätte es Klopstock vielleicht zum dichterischen Hohepriester gebracht, aber niemals zum Status des Kultautors. Denn das Problem ist ja offensichtlich: Wie eine Geschichte Jesu schreiben? Es steht doch alles in der Bibel.
Also erzählt Klopstock einfach von seiner Begeisterung bei der Lektüre des heiligen Textes. Das kann zwar manchmal vor lauter Aufwallungen und Aufgeregtheiten ziemlich langweilig werden, aber Klopstock entfaltet nichts anderes als die Gefühlsgeschichte einer lesenden Seele.
Ein Beispiel?
Christliches Epos - Religion = Oden + Fans + Genie
Doch kann das nicht auch ohne Bibel funktionieren? Muss denn die Literatur Magd der Religion sein? Nein! Das ist die historische Pointe. Klopstock verzichtet in seinen Oden zusehends auf den religiösen Überbau, behält aber den emotionalen Unterbau bei. Und das klappt. Er liefert Empfindungen und Emotionen und die Leserinnen und Leser fühlen mit.
Fußball-EM und Taylor Swift: Warum Fans unverzichtbar sind
Plötzlich kann geherzt, geschmachtet, gewütet, geliebt werden. Jetzt entstehen Gefühlsgemeinschaften, jetzt entsteht ein Fantum, jetzt kann es erst so etwas wie ein Kultautor geben. Aus einem Dichter, der sich in den Dienst des Glaubens gestellt hat, wird ein Dichter, an den seine Gemeinde glaubt, aus Gott wird ein ICH, ein Autor, ein Genie.
Mehr zu Friedrich Gottlieb Klopstock in der Musik
Freie Rhythmen
Und das hat natürlich auch Konsequenzen für die Dichtung. Klopstock sprengt das Regelwerk auf, das die deutsche Literatur des 18. Jahrhunderts gegängelt und gefesselt hat. Die Explosion der Emotionen treibt das strenge Versmaß an den Rand des Chaos. Es entstehen die freien Rhythmen. Wer heute Lyrik ohne Reim und Regel schreibt, steht auf den Schultern von Klopstock.
Noch einmal zurück zu Goethe und seinem Werther. Das Gedicht, auf das die hauchende Charlotte mit der Nennung des Autorennamens anspielt, ist die Ode „Die Frühlingsfeier“, es ist ein wunderbares Preislied des Kleinen, des Endlichen, des Sterblichen, des einzelnen Tropfens im Gewitterregen. Und es endet so:
Aber um Himmels willen, was ist denn ein Frühlingswürmchen?
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