An diesem besonderen Erinnerungsbuch hat Friedrich Christian Delius bis kurz vor seinem Tod im Mai 2022 gearbeitet. In Form von Lexikoneinträgen lässt er Leben, Werk und Weggefährten Revue passieren – und zugleich die Geschichte der Bundesrepublik. Ein Selbstporträt aus Collagen, das jetzt posthum erscheint.
Eine Autobiografie in der Art von Lexikoneinträgen, alphabetisch geordnet und allesamt unter dem Buchstaben A – kann man einem langen Leben so beikommen? Und, vielleicht wichtiger noch, kann man damit auf Dauer fesseln? Friedrich Christian Delius hat es kurz vor seinem Tod im vergangenen Mai ausprobiert, und im Vorwort seines jetzt posthum erscheinenden Buchs benennt er dafür einige gute Gründe. Fast alle Autobiografien, schreibt er, krankten an ihrer „inneren Zielgewissheit“, alles bekomme im Rückblick einen Sinn verpasst, auch Umwege und Abstürze.
Diese Art von Komplexitätsreduktion wollte Delius nicht nötig haben, aber er hatte im Lauf der Zeit ja tatsächlich so viel erlebt, beobachtet, wahrgenommen und bedacht, das verdient hat, nicht in Vergessenheit zu geraten. In Erinnerung gerufen werden sollte es – aber eben als, wie er es nennt, „Selbstporträt aus Collagen“, aus Bruchstücken und Fragmenten. Und dann zitiert er aus Goethes „Wilhelm Meister“:
„Literatur ist das Fragment der Fragmente; das Wenigste dessen, was geschah und gesprochen worden, ward geschrieben, vom Geschriebenen ist das Wenigste übriggeblieben.“
Eine hochfliegende Referenz, die jedoch von Delius‘ fast durchgehender milder Selbstironie sympathisch geerdet wird. Das Ordnungsprinzip für seine Mosaiksteinchen ist vergleichsweise einfach: Jedes ist überschrieben mit einem Stichwort, das mit A beginnt. Los geht es mit einer denkbar kurzen Notiz zur Blutgruppe A, Rhesus positiv, gefolgt von einem der längeren Einträge über hunderttausend Blatt DIN A-4-Papier, die der Autor 1987 als Honorar für eine Auftragsarbeit bekommen und bis 2018 aufgebraucht hatte, und dem Stichwort „Aare“. Der Fluss, der durch Bern fließt, hat mit Delius allerdings nur insofern zu tun, als der Dichter Jürgen Theobaldy, Delius‘ Freund und Briefpartner seit 1974, darin sommers zu schwimmen pflegt.
Allzu streng nimmt Delius das A-Prinzip also nicht. Mit dem, worum es tatsächlich geht, sind die Überschriften zuweilen nur lose verbunden. Das Schlagwort „Arbeitspause“ etwa führt zu Delius‘ lebensgefährlicher Lungenentzündung von 2008 und deren literarischer Verarbeitung in seinem 2021 erschienen Buch „Die sieben Arten des Schweigens“. Zuweilen besteht das Schlagwort aus einem Vornamen, dessen Träger oder Trägerin darunter kürzest porträtiert wird. Manchmal sind es auch mehrere, dann werden sie durchnummeriert, von Arno 1, nämlich dem einschüchternden Leseerlebnis Arno Schmidt, bis zu Arno 3, dem Journalisten Arno Widmann, dem Delius 1978 bei Gründung der taz vorschlug, das neue Blatt doch „Deutsche Zeitung“ zu nennen:
„Der Titel sei frei (es hat mal eine Zeitung mit diesem Namen gegeben), wir Linken und Linksliberalen sollten die Avantgarde der politisch besseren Deutschen sein.“
Arno Widmann reagierte entgeistert, wie Delius sich erinnert:
„Deutsch, das war schmuddelig, als nationalistisch verpönt.“
Auf diese Weise ist unter dem Buchstaben A erstaunlich vieles unterzubringen. Die Einträge – es sind mehrere hundert – umfassen Prägendes aus Schulzeit und Elternhaus ebenso wie lebenslange Freund- und Gegnerschaften in Ost und West. Neben überwundenen Kränkungen und dem bald enttäuschten Engagement für die SPD im „Wahlkontor deutscher Schriftsteller“ 1965 steht der eigene heiter-agnostische Kulturprotestantismus, neben der Liebe zu Frauen und Familie der skeptische Blick auf das bundesrepublikanische Führungspersonal. Berliner Szenen wechseln mit Reiseeindrücken und Stipendiumserlebnissen. Mythen und Legenden werden gegen den Strich gebürstet:
„Ich sträube mich nach Kräften, als Achtundsechziger beschimpft oder gefeiert zu werden. Wenn einem schon ein Jahrgangsetikett angepappt wird, dann ziehe ich den Sechsundsechziger vor: die Phase des Aufbruchs, des Kulturbruchs, der Horizonterweiterungen (…)“
Bei aller Lust am Widerspruch atmen diese Erinnerungen Versöhnung mit der eigenen Vergangenheit. Erneut beleuchtet wird mancherlei, das vor einem Jahrzehnt bereits Gegenstand des Erinnerungsbuchs „Als die Bücher noch geholfen haben“ gewesen ist: die ersten Versuche des Jungdichters, seine Lyrik bei namhaften Zeitschriften unterzubringen, der unverhoffte Erfolg des gerade 21-Jährigen bei der Gruppe 47 und die großen Auszeichnungen der späteren Jahre, die gerichtlichen Auseinandersetzungen wegen seiner Satiren auf „Unsere Siemenswelt“ und den Kaufhauskönig Horten, die Arbeit als Lektor im Verlag von Klaus Wagenbach und auch das Zerwürfnis mit dem Verleger über dessen Haltung zur RAF, die Gründung des Rotbuch Verlags und dessen Verdienste um Autoren wie Thomas Brasch und Heiner Müller.
In den wenige Zeilen bis mehrere Seiten langen Texten geht Delius wichtige Lebensstationen selten frontal an, sondern nähert sich ihnen quasi von der Seite, nimmt sie im Augenwinkel wahr, bevor sie in den Fokus rücken. Einiges taucht leitmotivisch immer wieder auf, etwa das ewige Rätsel Rom, die Stadt, in der Delius zur Welt kam und später viele Jahre lebte, oder das Schweigen und die Befreiung der eigenen Sprache, auch ein gewisses Am-Rand-Stehen, die Position des Zuschauers, die Delius zeitlebens der des Steinewerfers vorzog. So heißt es unter dem Stichwort „Achternbusch, Herbert“:
„Manchmal wäre ich schon gern anarchistischer gewesen, so wie der Dichter und Filmer Herbert Achternbusch beispielsweise. Das denkt der Vorsichtige, Ängstliche, Brave, wenn die Zeit dafür vorbei ist, in naiver Selbstgefälligkeit und Selbstüberschätzung und sicher, solche Risiken nicht mehr eingehen zu müssen.“
Der Autor Friedrich Christian Delius gilt gemeinhin als glänzender Stilist. Ungut fallen deshalb ein paar Schnitzer auf, die der langjährige Lektor Delius vermutlich getilgt hätte, wäre ihm die Zeit für weitere Durchsicht des Manuskripts geblieben. Aufs Ganze gesehen zieht er hier sprachlich und formal noch einmal die unterschiedlichsten Register, vom flapsig-lapidaren Beiseite-Sprechen über die klassisch ausgeführte Szene bis zum kleistisch mäandernden Satzgetüm.
So abwechslungsreich das ist, so sehr stellt sich mit fortschreitender Lektüre dieser vermischten Nachrichten die Frage, welchen Leser, welche Leserin sie erreichen werden. Allzu viele neue werden es nicht sein. „Darling, it’s Dilius!“ ist etwas für Delius-Kenner und -Liebhaber und bereitet weniger Entdeckerlust als Wiedersehensfreude, verbunden mit einer historischen Melancholie, wie sie einen erfassen mag vor den Ruinen des alten Rom.
Platz 1 (101 Punkte) Friedrich Christian Delius: Darling, it's Dilius
Im Februar wäre F.C. Delius 80 Jahre alt geworden. Bis zuletzt hat er an seiner Autobiografie geschrieben: Kurze Texte, sortiert nach Stichworten, die allesamt mit dem Buchstaben A beginnen. Mal melancholisch, mal präzise scharf gestellt.
Buchkritik Friedrich Christian Delius - Wenn die Chinesen Rügen kaufen, dann denkt an mich
Auch die Klügsten sind vor der Wutbürgerei nicht gefeit. Im neuen Roman des Schriftstellers Friedrich Christian Delius rechnet ein entlassener Redakteur mit der deutschen Politik ab. Starke Meinungen, schwache Literatur.
Rezension von Wolfgang Schneider.
Roman
Rowohlt Berlin Verlag
ISBN 978-3737100762
256 Seiten
20 Euro