Lassen sich die namenlosen Opfer vergangener Zeiten nachträglich retten? Welche Potenziale bergen selbst die schrecklichsten Epochen der Geschichte? Und wie hoch ist der Preis für die, die in einer besseren Zukunft leben wollen? Franz Friedrich geht diesen Fragen in seinem originellen Zeitreiseroman „Die Passagierin“ nach.
Angenommen, man könnte in die Vergangenheit reisen und Menschen mit sich zurück in die Zukunft nehmen – welche Personen wären das? Jedenfalls nicht die großen Namen der Geschichte. Einen Buddha, Jesus oder Platon ihrer Epoche zu entreißen hätte schließlich unabsehbare Folgen für den Geschichtsverlauf. Die Zeitreisenden in Franz Friedrichs Roman „Die Passagierin“ konzentrieren sich daher auf tragische Einzelschicksale, auf vergessene Selbstmörder oder Opfer kollektiver Gewalt.
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Zeitreisen zur Gewissensberuhigung
Um es gleich zu sagen: Plausibel ist dieser Einfall nicht. Man sollte meinen, dass es auch in der Zukunft mehr als genug Menschen geben wird, warum also noch Abertausende aus der Vergangenheit holen? Doch Friedrichs Retter sind Gutmenschen par excellence; was sie antreibt, ist eine Variante der Überlebensschuld: Wer das Glück hat, in einer Zeit zu leben, in der alle Menschheitsprobleme gelöst sind, möchte zur Gewissensberuhigung wenigstens ein paar Einzelne an diesem Glück teilhaben lassen. Menschen wie Matthias, einen verbitterten Landsknecht aus dem späten Mittelalter:
Die uneingelösten Potenziale einer Epoche
Dass dennoch vieles an diesem Rettungsprogramm unklar bleibt, liegt daran, dass der Autor darauf verzichtet, die zukünftige Welt seines Romans detaillierter zu beschreiben. Was schade ist, da so die vermeintlich bessere Welt bloße Behauptung bleibt. Sicher ist nur, dass es dieses Programm zur Zeit der Handlung schon nicht mehr gibt. Es wurde kurz vor Beginn des Romans eingestellt, nachdem eine der Geretteten, ein Opfer der Hexenverfolgungen, lieber wieder in ihre Zeit zurückkehren wollte. Das Ende der Rettungsmissionen ist für die übrigen Evakuierten ein Schock ebenso wie für die, die diesen Einsätzen ihr Leben gewidmet haben.
Friedrichs Ich-Erzählerin Heather ist sogar beides, eine Evakuierte, die später selbst Menschen aus ihren Unglücksepochen gerettet hat. Mit dem Autor teilt sie das Geburtsjahr, 1983, und die Jugend im tristen Ostdeutschland der Neunziger mit Arbeitslosigkeit und Neonazis. Zu Romanbeginn sucht sie ein Sanatorium auf, einen kafkaesken, verfallenden Rückzugsort der letzten Evakuierten. Dort – in einer nicht genauer spezifizierten Zukunft – bilden Menschen aus allen möglichen Epochen eine Art Selbsthilfegruppe, unter der Leitung einer früheren Schamanin. Die interessiert sich in den therapieähnlichen Gesprächsrunden vor allem für die individuellen Traumata der Geretteten; zum Ärger von Landsknecht Matthias, dem die Möglichkeiten einer Epoche wichtiger sind.
Ein Landsknecht als Utopist
Ästhetisch kann man Friedrichs geschichtsphilosophischem Zeitreise-Roman leider einiges vorwerfen: seinen allzu haushälterischen Umgang mit Informationen über die Zukunft etwa. Oder Unglaubwürdigkeiten wie die Annahme, dass sich Menschen mit komplett anderen Prägungen via Crash-Kurs in gebildete, moderne, westliche Menschen verwandeln lassen – wer will, mag darin einen sarkastischen Kommentar auf die Migrationsdebatten unserer Tage sehen.
Zugleich aber hat die Figur des „sanften Melancholikers“ Matthias etwas Großartiges: Ein ehemaliger Landsknecht, der zur Zeit der Bauernkriege aufseiten der reaktionären Kräfte stand. Und sich in der Zukunft zu einem erfinderischen Utopisten mausert und sich den Kopf zermartert, warum die Menschheit ein ums andere Mal unter ihren Möglichkeiten geblieben ist. Das ist wirklich originell!
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Rezension von Mario Scalla (Übernahme vom HR).
S. Fischer Verlag, 528 Seiten, 30 Euro
ISBN 978-3-10-397339-6