Ilija Trojanow macht in „Tausend und ein Morgen“ aus was-wäre-wenn-Gedankenspielen einen Roman und schreibt die Menschheitsgeschichte um – jenseits von Klimakollaps und Apokalypse.
Politisch, unterhaltsam und ausnahmsweise mal wohltuend optimistisch.
Für den Philosophen Hegel war die Geschichte eine 'Schlachtbank'. Massaker, Kriege, Untergänge von Staaten und Reichen – viel Gutes war da nicht zu berichten. Musste das so sein, gab es Alternativen, vielleicht sogar ein Beispiel für Zwischenzeiten, in denen es sich gut leben ließ?
Menschheitsgeschichte positiv umgeschrieben
Illija Trojanow hat sich vier historische Epochen herausgesucht, in denen eine Gruppe von Chronautinnen und Chronauten, von Zeitreisenden also, aktiv ist, um der Geschichte wenigstens eine etwas bessere Wende zu geben - mit der Hoffnung, dass ein kleiner Eingriff hier, eine Beeinflussung des Geschehens dort, der menschlichen Entwicklung einen besseren Verlauf bescheren könnte.
Den Auftakt bildet etwas karibische Piratenromantik:
Jeder Plan muss im chromatischen Kreis einen Spießfragenlauf überstehen. Wenn eine Strategie seziert wird, ist Skepsis oberste Pflicht. Es ist schmerzlich schwer, jene Stelle zu finden, in der die Drehtür der Geschichte aus den Angeln gehoben werden kann. Cyas Idee verlangte den anderen viel Fantasie ab. Weder Piraten noch Matrosen noch Sklaven haben Zeugnisse hinterlassen, bis auf wenige Ausnahmen. Ihre Geschichten fanden keine Erwähnung in Korrespondenzen, Nachlässen und Grundbucheintragungen. Je tiefer Cya in dieses Damalsdort eingetaucht sei, desto klarer habe sie sich einen anderen Verlauf der ozeanischen Geschichte vorstellen können.
Was wäre gewesen, wenn Piraten und Sklaven sich zusammengetan hätten? Hätten sie das System der Sklaverei auf den Baumwollplantagen untergraben und mehr als nur einen kurzen Sommer der Anarchie, vielleicht sogar ein Reich der Freiheit und Gleichheit begründen können?
Es gibt keinen Hinweis darauf, dass jemals etwas derartiges gedacht, geschweige denn versucht worden wäre. Aber man wird es sich doch wohl noch vorstellen dürfen – und genau darin liegt die poetische und politische Dimension dieses Romans.
In der zweiten Geschichte geht in das Indien der Zukunft. Wie weit, das verrät der Autor nicht, ist auch nebensächlich gegenüber dem, was bis dahin passiert ist:
Nach dem letzten schweren Sturm ist ein altes havariertes Containerschiff von den Felsen, in denen es verkeilt war, losgerissen worden, die Strömung trieb es über das Meer nach Süden, gen Land, es hat unter Beobachtung der örtlichen Mauersegler gestanden, ohne dass etwas hätte unternommen werden können, da gigantische Schiffe nicht mehr hergestellt werden und die Kenntnis fehlt, wie mit ihnen nach einer Havarie umzugehen ist. Die Ladepapiere im Archiv bestätigen, das Schiff hatte tonnenweise Plastikpuppen geladen, Hunderte Container voller primitivem Spielzeug von Damalsdort.
Die Welt der Zukunft: gerecht, demokratisch und frei von Plastik
Keine Containerschiffe mehr, kein Plastik mehr, die weiter die Weltmeere verschmutzen – und damit nicht genug. Geld wurde abgeschafft, soziale Gleichheit und Demokratie regieren, und selbst wenn der Planet sich weiter aufgeheizt hat und die Hitze oft unerträglich ist, wurden Maßnahmen ergriffen, um die Klimakatastrophe in Grenzen zu halten.
Illija Trojanow hat einen Roman geschrieben, jenseits von Geschichtsdeterminismus und Faktendenken. Er erzählt von den Diskussionen unter den Chronauten, malt in Details aus, welche Überraschungen eine solche Zeitreise bringen können und gibt seiner Hauptfigur, der jungen Frau Cya viel Raum für ihre Beziehungen mit Mitreisenden oder denjenigen, die sie in der Piratenkaribik, dem Indien der Zukunft oder an Orten trifft, auf die sie gar nicht vorbereitet war.
Zwischen Trinksprüchen hat sie erfahren, was alle feiern: Die Olympischen Spiele. Und der Ort? Vier Silben, alle gleich lang, ein Viervierteltakt unter pochenden Anoraks: Sa-ra-je-wo. Chronautisch nie angepeilt. Ihr aus einem einzigen Grund geläufig. Eine der Simulationen findet in Sarajewo statt. Eine besonders schwierige Prüfung: die Verhinderung eines Krieges.
Ein Roman gegen den Katastrophismus der Gegenwart
Die vierte Reise geht dann in die Zeit der russischen Oktoberrevolution – und immer lautet die Frage: Wo ist die entscheidende Stelle, um in den verhängnisvollen Lauf der Geschichte einzugreifen?
„Tausend und ein Morgen“ ist ein Roman, der gegen den herrschenden Katastrophismus geschrieben ist, gegen das Gefühl, alles werde sowieso nur immer schlimmer. Es könnte ja immerhin sein, dass die Geschichte für immer mehr Menschen immer weniger schlimm ausgeht. Eine Revolution des Denkens und des Erzählens wäre dabei hilfreich – zum Beispiel, sich ein paar Was-Wäre-Wenn-Geschichten auszudenken. Illija Trojanow hat auf höchst anregende Weise vorgemacht, wie das aussehen könnte.
Buchkritik Ilija Trojanow – Tausend und ein Morgen
Ilija Trojanow macht in „Tausend und ein Morgen“ aus was-wäre-wenn-Gedankenspielen einen Roman und schreibt die Menschheitsgeschichte um – jenseits von Klimakollaps und Apokalypse. Politisch, unterhaltsam und ausnahmsweise mal wohltuend optimistisch.
Rezension von Mario Scalla (Übernahme vom HR).
S. Fischer Verlag, 528 Seiten, 30 Euro
ISBN 978-3-10-397339-6