Johann Wolfgang von Goethe: Die Wahlverwandschaften

Ein Roman mit Geheimnissen

Stand
Autor/in
Frank Hertweck
Onlinefassung
Nina Wolf

Ein Epochenumbruch zwischen Kriegsidylle, gefährlichen Leidenschaften, Sexfantasien und einer gnadenlosen Analyse der bürgerlichen Familie.

Zwei Anfänge auf einmal: Zum einen wird einer getauft, der auch anders heißen könnte, nämlich auf den Namen Eduard.

Eduard – so nennen wir einen reichen Baron im besten Mannesalter – Eduard hatte in seiner Baumschule die schönste Stunde eines Aprilnachmittags zugebracht, um frisch erhaltene Propfreiser auf junge Stämme zu bringen.

Und zum andern kümmert sich dieser Eduard um Fortpflanzung. Er ist ein Baron, verheiratet mit seiner Jugendfreundin Charlotte, lebt zurückgezogen, arbeitet an der Kultivierung der Natur durch Park und Architektur. Draußen herrscht Krieg, aber hier die Idylle.

Zeiten des Umbruchs

Goethe hat seinen Roman ab 1807 geschrieben, gerade in einer chaotischen Zeit, in der Preußen von Napoleon vernichtend geschlagen worden war, und damit auch sein Verbündeter, das Herzogtum Weimar bzw. Goethes Freund und Arbeitgeber Carl August.

Selbst in Weimar gehörten jetzt französische Soldaten zum Stadtbild, und auch der beziehungsreiche Goethe musste französische Offiziere beherbergen.

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Ein reiches Ehepaar, ein attraktiver Hauptmann, eine liebreizende Ziehtochter – was als sommerliche Idylle à la Bridgerton beginnt, endet im Desaster.

Sexfantasien mit Folgen

Aber die adlige Idylle im Roman ist gefährdet, zwei Elemente verändern die Relationen im Beziehungsgefüge des Ehepaars: Da ist der Hauptmann, der Charlotte in seiner nüchternen und zupackenden Art fasziniert, und da ist Ottilie, eine höhere Tochter, die aber schulisch versagt hat, was Eduard eher anspornt, ihr den Hof zu machen.

Es kommt zu einer der berühmtesten Szenen der Literaturgeschichte: Eduard und Charlotte schlafen miteinander, aber während der eine an Ottilie denkt, träumt die andere vom Hauptmann.

Das Ergebnis: Charlotte wird schwanger und das geborene Kind sieht aus, als hätten die Gespenster im Kopf es gezeugt. Die schnöde Wirklichkeit verliert gegen die Fantasie!

In einer Zeit, in der Sorge getragen wurde, dass die Lesesucht und damit die erdachten Welten die Köpfe der Lesenden verwirren könnten, eine ganz eindeutige Parteinahme zugunsten der Einbildungskraft. Kein Wunder, bei einem Romanautor.

Einer der kältesten und gnadenlosesten Romane

Der Medienwissenschaftler Friedrich Kittler hat diesen scheinbar weltfremden Kosmos in seiner Zeit verortet. Für ihn geht es um einen Epochenumbruch: Das fantasierende adlige Paar kümmert sich nicht um das Kind, sondern ihre Objekte der Begierde übernehmen diese Aufgabe in der Realität.

Der Hauptmann, den Friedrich Kittler als modernen Staatsbeamten liest, als Vater. Und Ottilie als Mutter, die in der Schule nicht einzelne Stoffe und öffentliches Auftreten gelernt hat, da hat sie versagt, sondern die stille Kunst des Erziehens. Die bürgerliche Kleinfamilie ist perfekt. Sie wird in diesem Roman auf tragische Art und Weise scheitern, weil der Autor Johann Wolfgang von Goethe nicht auf ihrer Seite steht. So lesen wir einen der kältesten und gnadenlosesten deutschsprachigen Romane.

Friedrich Kittler über „Die Wahlverwandschaften“

Friedrich Kittler, Professor für Ästhetik und Geschichte der Medien an der Humboldt-Universität Berlin
Friedrich Kittler (12. Juni 1943 - 18. Oktober 2011) war ein deutscher Literaturwissenschaftler und Medientheoretiker.

Der Hauptmann aber hat ein ganz reales Vorbild, so Friedrich Kittler: Friedrich Karl Ferdinand Freiherr von Müffling, der später sogar Chefs des Generalstabs der preußischen Armee werden wird. Er etabliert den „gebildeten Offizier“, so etwas wie den Bürger in Uniform.

Er revolutioniert die Kartographie, kreiert den Sandkasten, mit denen man Manöver und Kriegszüge durchspielen kann, kümmert sich, ganz wie der Hauptmann im Roman, um die Verbesserung der Straßen und Wege, wird sowohl in der Fiktion als auch in der Wirklichkeit zum Major promoviert und hat nur ein politisches Ziel, die Herrschaft Napoleons über Preußen zu beseitigen. Und dafür überwintert er am Weimarer Hof als Arbeitskollege von Goethe.

Und wer ist dann Eduard? Der ja vom Dichter, wie wir wissen, getauft wird? Nach Friedrich Kittler ist es der Herzog Carl August selbst: Ungeduldig auf einen frühen Krieg gegen Napoleon drängend und natürlich mit einer stadtbekannten Affäre beschäftigt.

Goethes Roman erinnert den Herzog – und auch uns – daran, wie das alles ausgehend könnte: nämlich ziemlich schlecht.

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