Buchkritik

Daniela Seel – Nach Eden

Stand
Autor/in
Beate Tröger

Mit ihrem vierten Gedichtband „nach eden“, der nun erstmals im Suhrkamp Verlag erscheint, schließt die Verlegerin Daniela Seel thematisch an ihre vorangegangenen Gedichtbände an.

Seit rund 2000 Jahren wird die Geschichte der Menschheit auch erzählt als Geschichte des Sündenfalls: Gott verbietet Adam und Eva im Paradies, Früchte vom Baum der Erkenntnis zu pflücken. Die listige Schlange verführt Eva dazu, sich diesem Verbot zu widersetzen. Adam und Eva erlangen dadurch Erkenntnis, werden sich ihrer Nacktheit gewahr.

Keine Verführung, sondern bewusste Entscheidung

Sie werden dafür von Gott aus dem Paradies verstoßen, werden sterblich, und die Geburt ihrer Kinder ist von diesem Moment an durch einen Fluch Gottes mit großen Schmerzen für die Frau verbunden. Die Lyrikerin Daniela Seel wagt eine andere Interpretation dieser biblischen und für die Geschichte des Abendlandes so bedeutenden Urszene, begreift sie nicht als Verführung durch die Schlange, sondern als bewusste Entscheidung: 

Eva entscheidet sich. Für Erkenntnis und Lust. Für Mut. 
Die Konsequenzen nimmt sie in Kauf. Nehme ich Eva ernst, 
ist die Vertreibung aus dem Paradies nicht Rauswurf, sondern 
Auszug. Der Ausgang des Menschen in die Zeit. In Sterblichkeit.

Eva ernst nehmen

Eva ernst nehmen und damit die ganz großen Fragen nach Schuld, Verantwortung, Erkenntnis noch einmal stellen, das geschieht in „nach eden“. Wäre das Leben im Paradies als Lebensraum denn wirklich so paradiesisch? Steckt nicht auch in ihm schon etwas Gewaltsames? 

Vom Garten ist es nicht weit zur Plantage mit ihrer Sklav:innenarbeit, 
Ausbeutung, Raub. Für und gegen wen will Garten Eden sein, Paradies – 
das sich herüberliest von awestisch pairi daēza, »Einhegung«, »umwallt«?

Daniela Seel blickt in ihren Gedichten auf Versuche, Unbegrenztes, Unbequemes und Unberechenbares einzuhegen, seien es Tiere und Pflanzen unbekannter Arten, seien es Frauen im Mittelalter, die als Hexen verbrannt wurden, seien es die Naturvölker, die Alexander von Humboldt auf seinen Reisen mit dem Blick der Kolonisators erforschte, seien es besonders bedürftige Kinder unter der nationalsozialistischen Terrorherrschaft, seien es spätgebärende Frauen, deren Schwangerschaften als Risiko betrachtet wird: 

Als meine Kinder geboren werden, bin ich 43 und 45 
Jahre alt. Risikoschwangerschaften der Statistik nach. 
Aber auf welches Risiko wird hier gezielt? 
Bei der obligatorischen Frühdiagnostik frage ich 
den Arzt, ob sich durch gesündere ältere Mütter 
und höhere Lebenserwartung nichts geändert habe. 
Ohne aufzublicken, sagt er nein.

Gedichte über Schwangerschaft, Fehlgeburten und Feminismus

So beginnt eines der Gedichte über Schwangerschaft, Fehlgeburten und den Umgang der Medizin, es endet mit den Versen: 

Die Befunde bleiben »unauffällig«. 
Hätte ich mich für Abtreibung entschieden, 
wenn nicht? Wäre ich dazu gedrängt worden 
und von wem, bei welchem Befund?

Daniela Seel greift Themen auf, die in der Geschichte des Feminismus seit jeher Gewicht haben. Doch sind es nicht nur die Themen, die ihre Gedichte so wirkungsvoll machen. Vor allem durch unterschiedliche Register, die hier gezogen werden, um verschiedene Stimmen zum Klingen zu bringen, entsteht eine große Intensität.

Mal spricht ein Totengräber der Idsteiner Pflegeeinrichtung Kalmenhof, die zur Zeit des Nationalsozialismus Zwischenanstalt für das Tötungslager Hadamar war: 

was wollt ich machen, gell. Hätt ichs nicht gemacht, 
wärs auch mei eigens Leben gegange. Und dann, 
wo hätt ich auch hingewollt, ich hat ja mit die Außenwelt gar keinen Kontakt

Fragen aus Kindersicht

Immer wieder stellt ein Kind seine Kinderfragen, spricht aus seiner Sicht und konterkariert grausame und gewaltsame Zusammenhänge, die andere Gedichte umkreisen: 

Mama, ich höre die Bäume. Ich höre die Bäume singen.

Aus dieser Vielstimmigkeit bei fortwährender Konzentration auf das lyrische Ausgangsmotto „Eva ernst nehmen“ liegt mit „nach eden“ ein Gedichtband vor, der bewegt, produktiv befremdet und einiges riskiert. 

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Beate Tröger