Buchkritik

Clemens Meyer – Die Projektoren

Stand
Autor/in
Niels Beintker

„Die Projektoren“ erzählt – auf über 1.000 Seiten – von Krieg, Gewalt und Verrohung, von alten und neuen Nazis, von Utopien, Hoffnungen und Phantasien, alles miteinander verbunden durch das Kino und die Verfilmungen der Romane von Karl May.

Dieser Cowboy erinnert kein bisschen an die „humpelnden Helden“ aus den Büchern von Karl May. Oder besser von „Dr. May“, wie der Schriftsteller in Clemens Meyers Roman „Die Projektoren“ beständig genannt wird. Der Mann, der wegen seines großen Halstuchs nur Cowboy heißt, steht in den 50er Jahren vor einem verfallenen Haus im jugoslawischen Velebit-Gebirge, das ganze Hab und Gut in einer Holzkiste. Alsbald zeigt sich: dieser Mensch hat eine mehrfach gebrochene Geschichte. Vor der Ankunft im Velebit war er auf „der Insel“, wie es im Roman heißt. Es ist die berüchtigte Gefangeneninsel Goli Otok.

Der Cowboy ist mit dem Staat aneinander geraten, mit dem Kommunismus. Aber tragischerweise sagt er immer noch von sich, bis in die 70er, 80er Jahre hinein: Ich bin Kommunist. Was bleibt mir auch anderes übrig? Und er glaubt an Jugoslawien, an die Gemeinschaft der südslawischen Völker. Trotz der Tatsache, dass er auf dieser Insel gesessen hat.

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Stück für Stück wird die Geschichte von Cowboys entfaltet. Er stammt aus Belgrad, beim Überfall der Deutschen auf Jugoslawien 1941 hat er, halb noch ein Kind, seine Familie verloren. Er ging zu den Partisanen, wurde Kommunist. Zwanzig Jahre später, im Velebit lebend, wird er Komparse bei den Karl-May-Verfilmungen und darf sogar Lex Barker als Dolmetscher zur Seite stehen. Die in Jugoslawien entstandenen Leinwand-Märchen – wie auch „Dr. May“ – bilden die große Klammer für die unterschiedlichen Geschichten, die Clemens Meyer in „Die Projektoren“ erzählt. Georg, die zweite Hauptfigur, sieht die Filme – 20 Jahre später – im Kino in Leipzig, in einer kaputten und dreckigen Welt.

Die Wintermorgen waren sehr dunkel, und er lief durch die Straßen Richtung Schule, Richtung Zeitungskiosk, und er sah die Schemen der anderen Schulkinder auf anderen Fußwegen, in den Seitenstraßen, wie durch einen Nebel, denn die Kälte drückte den Rauch in die Straßen des Viertels, in die Straßen der Stadt, der morgendliche Kohleatem der Häuser, Schornstein an Schornstein, schwarzrote Ziegeldächer, gesprenkelt vom Schnee, den der Rauch der Fabriken schwarz gefärbt hatte im langsamen Fall der Flocken; große Fabriken, Kombinate, Heizkraftwerke lagen um die Stadt herum.

Georg, eine Ost-West-Biographie

Georg, schließt sich, auch er da noch halb Kind, in Leipzig einer Gang von Neonazis an. Die Eltern verlassen mit ihm in den 80er Jahren die DDR. Georg wird Mitglied einer rechtsextremen Gruppe im Ruhrgebiet und zieht schließlich, im Oktober 1991, als Freischärler in den kroatischen Bürgerkrieg, an der Seite faschistischer Kämpfer.

Diese Figur – Georg – ist sieben Jahre älter als ich. Der ist Jahrgang 1970. Aber dass es in der DDR Neonazismus gab, dass diese maroden, kaputten Städte der DDR, dass da auch moralische Kaputtheiten und gesellschaftliche Kaputtheiten unter dem Deckmantel des Sozialismus stattfanden, das war mir immer bewusst. Und das gehörte da für mich hinein.

Krieg, Verrohung und Gewalt als Leitmotive

Krieg, Verrohung und Gewalt sind Leitmotive in „Die Projektoren“. Die Geschichten von Georg und vom Cowboy – allein jeweils über 150 Seiten lang – sind verwoben mit etlichen anderen Erzählsträngen, mal märchenhaft anmutend, mal komisch, immer wieder eigensinnig konstruiert.  Plötzlich findet man sich lesend in einem Register mit Stichworten zu den Karl-May-Verfilmungen, dann wieder wird – in 293 Sätzen – von einer Reise von Pierre Brice und Intschu-tschuna-Darsteller Mavid Popović 1973 in die USA berichtet, zur von Indigenen Aktivisten besetzten Gedenkstätte in Wounded  Knee. Und immer wieder führt der Roman in eine fiktive psychiatrische Klinik in Leipzig. Dort untersuchen schräge Dottores ihre von den Kriegen gezeichneten Patienten, darunter auch einige Romanfiguren.

Der Vater des Cowboy liest ihm schon in den 40er oder 30er Jahren ein Buch vor – oder zeigt ihm ein Buch, wo erwähnt wird, dass dort angeblich „Doktor May“ gesessen hätte. Denn der wäre ja verrückt. Und den soll er gar nicht lesen. Er soll lieber Kleist lesen, Heine und Büchner – und nicht den Doktor May. Der war verrückt. Der hat schon bei diesem Doktor Güntz gesessen, 1870 oder so. Da taucht das auch schon auf. Die sind überall unterwegs, die verrückten Dottores.

Rätsel, Grotesken, Verwirrspiele. Wer „Die Projektoren“, einen Roman von über 1.000 Seiten, in wenigen Sätzen angemessen wiedergeben will, scheitert unweigerlich. Die kühne literarische Konstruktion erlaubt gar nichts anderes. Kurz vor dem deutschen Überfall auf Jugoslawien im Frühjahr 1941 unterhält sich der Junge, der später zum Cowboy wird, mit seinem Vater über den Unterschied zwischen Film und Literatur. Der moderne Roman, so heißt es da, sei ein Monolith, ein Chaos aus Stimmen. Genau das führt Clemens Meyer vor. Und vermag es, das Chaos erzählend lustvoll zu bändigen.

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