„Die Projektoren“ erzählt – auf über 1.000 Seiten – von Krieg, Gewalt und Verrohung, von alten und neuen Nazis, von Utopien, Hoffnungen und Phantasien, alles miteinander verbunden durch das Kino und die Verfilmungen der Romane von Karl May.
Dieser Cowboy erinnert kein bisschen an die „humpelnden Helden“ aus den Büchern von Karl May. Oder besser von „Dr. May“, wie der Schriftsteller in Clemens Meyers Roman „Die Projektoren“ beständig genannt wird. Der Mann, der wegen seines großen Halstuchs nur Cowboy heißt, steht in den 50er Jahren vor einem verfallenen Haus im jugoslawischen Velebit-Gebirge, das ganze Hab und Gut in einer Holzkiste. Alsbald zeigt sich: dieser Mensch hat eine mehrfach gebrochene Geschichte. Vor der Ankunft im Velebit war er auf „der Insel“, wie es im Roman heißt. Es ist die berüchtigte Gefangeneninsel Goli Otok.
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Die Welten Karl Mays in Jugoslawien
Stück für Stück wird die Geschichte von Cowboys entfaltet. Er stammt aus Belgrad, beim Überfall der Deutschen auf Jugoslawien 1941 hat er, halb noch ein Kind, seine Familie verloren. Er ging zu den Partisanen, wurde Kommunist. Zwanzig Jahre später, im Velebit lebend, wird er Komparse bei den Karl-May-Verfilmungen und darf sogar Lex Barker als Dolmetscher zur Seite stehen. Die in Jugoslawien entstandenen Leinwand-Märchen – wie auch „Dr. May“ – bilden die große Klammer für die unterschiedlichen Geschichten, die Clemens Meyer in „Die Projektoren“ erzählt. Georg, die zweite Hauptfigur, sieht die Filme – 20 Jahre später – im Kino in Leipzig, in einer kaputten und dreckigen Welt.
Georg, eine Ost-West-Biographie
Georg, schließt sich, auch er da noch halb Kind, in Leipzig einer Gang von Neonazis an. Die Eltern verlassen mit ihm in den 80er Jahren die DDR. Georg wird Mitglied einer rechtsextremen Gruppe im Ruhrgebiet und zieht schließlich, im Oktober 1991, als Freischärler in den kroatischen Bürgerkrieg, an der Seite faschistischer Kämpfer.
Krieg, Verrohung und Gewalt als Leitmotive
Krieg, Verrohung und Gewalt sind Leitmotive in „Die Projektoren“. Die Geschichten von Georg und vom Cowboy – allein jeweils über 150 Seiten lang – sind verwoben mit etlichen anderen Erzählsträngen, mal märchenhaft anmutend, mal komisch, immer wieder eigensinnig konstruiert. Plötzlich findet man sich lesend in einem Register mit Stichworten zu den Karl-May-Verfilmungen, dann wieder wird – in 293 Sätzen – von einer Reise von Pierre Brice und Intschu-tschuna-Darsteller Mavid Popović 1973 in die USA berichtet, zur von Indigenen Aktivisten besetzten Gedenkstätte in Wounded Knee. Und immer wieder führt der Roman in eine fiktive psychiatrische Klinik in Leipzig. Dort untersuchen schräge Dottores ihre von den Kriegen gezeichneten Patienten, darunter auch einige Romanfiguren.
Rätsel, Grotesken, Verwirrspiele. Wer „Die Projektoren“, einen Roman von über 1.000 Seiten, in wenigen Sätzen angemessen wiedergeben will, scheitert unweigerlich. Die kühne literarische Konstruktion erlaubt gar nichts anderes. Kurz vor dem deutschen Überfall auf Jugoslawien im Frühjahr 1941 unterhält sich der Junge, der später zum Cowboy wird, mit seinem Vater über den Unterschied zwischen Film und Literatur. Der moderne Roman, so heißt es da, sei ein Monolith, ein Chaos aus Stimmen. Genau das führt Clemens Meyer vor. Und vermag es, das Chaos erzählend lustvoll zu bändigen.
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