Ein Sohn, der seinen Vater niedersticht: einen angesehenen Anwalt, der vor Gericht die Opfer eines Kinderschänders vertritt. Wie es zu dieser Tat kommt, das rekonstruiert das nachdenkliche Familiendrama „Ein Schweigen“ von Joachim Lafosse.
Aufreizende Langsamkeit und ein großes Geheimnis
Astrid Schaar sitzt bei der Polizei. Ihr Sohn Raphael hat in der Nacht seinen Vater angegriffen: ein Mordversuch. Warum ist der Jugendliche so durchgedreht?
Was dieses Familiengeheimnis ist, das Astrid seit 30 Jahren bewahrt – diese Frage umkreist „Ein Schweigen“ mit aufreizender Langsamkeit und mithilfe vieler Auslassungen.
Ein harmonisches Leben – Doch nur auf den ersten Blick
Nach der Verhörszene vom Anfang springt der Film um einige Wochen zurück. Auf den ersten Blick wirkt das Leben der Familie Schaar harmonisch. In der großzügigen Villa kümmert sich Astrid um Sohn Raphael. Ihr Mann Francois (Daniel Auteuil) ist ein Staranwalt.
In einem aufsehenerregenden Prozess vertritt er ein Ehepaar, dessen Töchter Opfer eines Sexualverbrechers wurden.
Der Anwalt ist selbst schuldig
Doch unter der Oberfläche dieses wohlgeordneten Familienlebens lauert etwas Dunkles. Regisseur Joachim Lafosse fängt es zunächst als diffuses Unbehagen ein – in der seltsam distanzierten Art, wie die Familienmitglieder miteinander umgehen oder wie die Kamera den Vater immer wieder mit dem Dunkel verschmelzen lässt.
Aus dem Unbehagen wird langsam die Erkenntnis, dass es sich bei dem Geheimnis um einen Abgrund handelt: Francois ist selbst pädophil.
Der Film ist angelehnt an den wahren Fall des bekannten Lütticher Anwalts Victor Hissel, der Opferfamilien des Kinderschänders Marc Dutroux vertreten hatte. Später wurden auf seinem Computer tausende Missbrauchsdarstellungen gefunden. Im Film ist es Tochter Caroline, die ihre Mutter dazu bringen will, mit Raphael über seinen Vater zu sprechen.
Eindringliche Performance von Emmanuelle Devos
Warum richtet sich jemand so lange in seinem Schweigen ein? Aus Scham? Aus Loyalität? Um die Familie und das eigene privilegierte Leben zu schützen? Emmanuelle Devos als Astrid gibt darauf keine klare Antwort.
Umso eindringlicher spielt sie die seelische Deformation, die ein solches Schweigen mit sich bringt: die Einsamkeit, die Schuldgefühle, den Selbsthass. Präzise und zurückgenommen lotet die Inszenierung von Joachim Lafosse aus, wie zerstörerisch sich Schweigen auf soziale Beziehungen auswirkt. Wie es sich in den Fugen der zwischenmenschlichen Kommunikation einnistet und alles vergiftet.
Ein aktueller Mechanismus
Der Film weist aber über die Analyse einer dysfunktionalen Familie hinaus. Es geht auch allgemein um die Scheinheiligkeit eines gut situierten Bürgertums, das mit Vertuschen, Verdrängen und Beschweigen die eigene Kaste schützt.
Ein Mechanismus, der bis heute greift. Das zeigen nicht zuletzt die immer neuen MeToo-Fälle, die erst durch jahrelanges Schweigen und Wegschauen des Täter-Umfelds ermöglicht wurden.
Der Trailer zu „Ein Schweigen“:
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