Alternative Festivalkultur

Ein Hauch von Woodstock in Mainz: Das Open Ohr Festival feiert seine 50. Ausgabe

Stand
Autor/in
Hannegret Kullmann
Hannegret  Kullmann, Autorin bei SWR Kultur

Jahr für Jahr pilgern an Pfingsten an die 11.000 Besucherinnen und Besucher auf die Mainzer Zitadelle. Ihr Ziel ist das Open Ohr Festival, ein nicht-kommerzielles, politisches Kulturevent für Jung und Alt, mit Musik, Theater, Kabarett, Workshops und Diskussionsforen. Das Open Ohr ist einzigartig in Deutschland. 1975 wurde es von einem engagierten Team aus der Taufe gehoben.

Zuschauer sitzen auf Wiese beim ersten Open Ohr Festival auf der Zitadelle 1976
So sah es beim ersten Open Ohr Festival 1976 aus.

Mainzer Bürger hatten Angst vor einem wilden Rockfestival

Ohne die Beharrlichkeit der Gründungsväter hätte es das Open Ohr Festival wohl nie gegeben. Die Bürgerinnen und Bürger in Mainz hatten anfangs wenig Sympathie für die Idee, so der frühere Mainzer Jugendpfleger und Mitbegründer Uli Holzhausen.

Man befürchtete ein wildes Rockfestival mit Drogenexzessen und Vandalismus. Mehr als 30 Leserbriefe seien im Vorfeld in der Lokalzeitung erschienen, die meisten davon negativ.

Rückenansicht eines Gitarristen auf der Bühne mit Blick aufs Publikum
Vorbild für das Mainzer Open Ohr: Die Festivals für Chanson und Folklore auf der Burg Waldeck im Hunsrück.

Macher sahen sich in der Tradition der Burg-Waldeck-Festivals

An Pfingsten 1975 ging das erste Open Ohr Festival dann friedlich über die Bühne – damals noch auf dem Mainzer Hartenberg, ein Jahr später zog es auf das Zitadellen-Gelände um.

Als Vorbild und Inspiration dienten den Machern die legendären Burg-Waldeck-Festivals im Hunsrück (1964-69), aber auch die Internationalen Essener Songtage (1968).

Diese Festivals haben mich als Besucher sehr beeinflusst und auch mein späteres Leben maßgeblich geprägt.

Schlagersänger Janosch Rosenberg wurde ausgepfiffen

„Hits und Antihits“ lautete das Motto des ersten Open Ohr Festivals. „Wir wollten das ganze musikalische Spektrum auf die Bühne bringen“, sagt Uli Holzhausen, „vom linken Liedermacher Dieter Süverkrüp über die Ludwigshafener Straßensängerin Hemshof-Friedel bis hin zum Schlagersänger Janosch Rosenberg.

Der Bruder von Marianne Rosenberg wurde allerdings von der Bühne gepfiffen, so dass Marianne Rosenberg auf ihren eigenen Auftritt verzichtete.

Gitarrist Häns'che Weiss spielt auf dem ersten Open Ohr Festival Gipsy-Jazz
Auch der Gipsy-Musiker Häns'che Weiss (vorne) spielte auf dem ersten Open Ohr Festival 1975.

Veranstalterin des Open Ohr Festivals ist die Stadt Mainz

Ziel des Gründungsteams war es, ein alternatives, nicht-kommerzielles Jugend-Festival auf die Beine zu stellen, mit Musik, Kabarett, Theater, Lesungen und Workshops.

Das viertägige Alternativ-Event wird bis heute von der Stadt Mainz veranstaltet. Der frühere Sozialdezernent Karl Delorme (SPD) setzte sich dezidiert für das Festival ein, erinnert sich Uli Holzhausen, auch wenn es immer wieder Kritik von den politischen Gegnern hagelte

Freie Projektgruppe gestaltet das Festival-Programm

Seit 1975 Jahren steht das Open Ohr jedes Jahr unter einem neuen Motto, mit dem ein gesellschaftsrelevanter Diskurs angeregt werden soll.

Motto und Inhalt des Festivals werden von einer freien und unabhängigen Projektgruppe erarbeitet, die aus Ehrenamtlichen besteht und sich immer wieder erneuert. Dieses Konzept soll dafür sorgen, dass das Festival sowohl inhaltlich als auch musikalisch jung bleibt.

Die Organisatoren des Festivals stellen sich der Kritik
Ein Teil der Projektgruppe bei der damals täglichen Festivalkritik (v.l. Tom Schroeder, Günter Schreiber, Martin Degenhardt, Günter Schenk, Reinhard Hippen).

Skandal um Thesenpapier von Dieter Dehm

Das Open Ohr sei ganz klar ein politisches Festival, sagt Gründungsmitglied Uli Holzhausen. Schmunzelnd erinnert er sich an das Jahr 1977, in dem der Musiker Dieter Dehm alias Lerryn für einen Skandal sorgte.

Die Organisatoren hatten ein Thesenpapier für einen Workshop von Dehm im Programmheft abgedruckt. Dass er darin zur Enteignung der Banken aufrief, ging dem damaligen Mainzer Oberbürgermeister Jockel Fuchs definitiv zu weit: Die betreffenden vier Seiten mussten aus dem Programmheft herausgerissen werden.

Jugendpfleger Uli Holzhausen und städtische Mitarbeiterinnen präsentieren Festival-T-Shirt
Beschäftigte der Stadtverwaltung Mainz präsentieren das Open Ohr-T-Shirt 1976 (in der Mitte Uli Holzhausen).

Auch Maria Farantouri und José Afonso spielten beim Open Ohr

Von 1975 bis 1979 war Uli Holzhausen als Geburtshelfer des Festivals aktiv. Persönliche Highlights aus den ersten fünf Jahren zu benennen, fällt ihm schwer.

Besonders beeindruckt haben ihn die griechische Sängerin Maria Farantouri und der portugiesische Sänger José Afonso, dessen Lied „Grândola, Vila Morena“ zum Startsignal der Nelkenrevolution 1974 wurde. Aber auch der Auftritt der Puhdys, einer der bekanntesten Rockbands der DDR, ist ihm in Erinnerung geblieben.

SWF-Reporter interviewt Dieter Hertrampf von der DDR-Rockband "Puhdys"
SWF-Journalist Tom Schroeder (3.v.l.) interviewt beim Open Ohr 1977 Dieter „Quaster“ Hertrampf von der DDR-Rockband Puhdys (3.v.r.).

Nach wie vor erfolgreiches Festival-Konzept

Uli Holzhausen ist nach wie vor von der Idee des Open Ohr-Festivals, das eine Alternative zum Mainstream sein will, überzeugt. Die ursprünglichen Macher wollten einen Ort der Begegnung schaffen, des gemeinschaftlichen Erlebens und der Diskussion.

Dieses Konzept scheint auch nach 50 Jahren immer noch aktuell zu sein: Jahr für Jahr strömen an die 11.000 Besucherinnen und Besucher auf die Mainzer Zitadelle, um dort alternative Kultur in familiärer Atmosphäre zu erleben.

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