Missbrauch, Gewalt und Verwahrlosung. Mit solchen Fällen werden Jugendamtsmitarbeiter fast täglich konfrontiert. Ein Amtsleiter aus der Eifel berichtet.
Pro Jahr erhalten die Jugendämter in der Region Trier mehr als 1.000 Meldungen wegen Kindeswohlgefährdungen. Die Zahlen sind seit Jahren auf einem hohen Niveau. Rund 280 Kinder mussten im vergangenen Jahr in der Region aus ihren Familien geholt werden.
Familien unterstützen, Kinder schützen
Stefan Urmes arbeitet seit 28 Jahren im Jugendamt des Eifelkreises Bitburg-Prüm. Seit mehr als zwei Jahren steht er an der Spitze der Behörde. Für ihn ist die Aufgabe, die er und seine Kolleginnen und Kollegen haben, klar. Familien sollen bei Krisen unterstützt und Kinder – wenn nötig – geschützt werden.
Im SWR Aktuell-Interview berichtet der Eifeler von seiner Arbeit.
SWR Aktuell: Herr Urmes, wie viele Kindeswohlgefährdungen laufen in Ihrem Jugendamt jährlich auf?
Stefan Urmes: Wir müssen unterscheiden zwischen Meldungsfällen und tatsächlichen Kindeswohlgefährdungen. 2023 gingen rund rund 260 Gefährdungsmeldungen bei uns ein. Dabei ging es um rund 450 Kinder. Etwa bei der Hälfte der Fälle lag eine akute oder latente Gefährdung vor.
Die Zahlen in den vergangenen Jahren sind nicht so gravierend gestiegen, wie man manchmal das Gefühl hat. Allerdings haben wir hier im Eifelkreis eine sehr hohe Anzahl an Gefährdungsmeldungen und somit auch an tatsächlichen Gefährdungen.
SWR Aktuell: Woran liegt das?
Urmes: Das fragen wir uns seit Jahren. Ich denke schon, dass das Thema soziale Kontrolle - und das meine ich gar nicht im negativen Sinne – hier funktioniert und dass dadurch öfter gemeldet wird. Das gilt aber für alle Jugendämter. Durch die Kinderschutz-Diskussionen, die in den vergangenen 15 Jahren geführt wurden, ist die Öffentlichkeit sensibilisierter.
Es gibt gesetzliche Weiterentwicklungen. Die Zusammenarbeit mit Schulen und der Polizei ist intensiver geworden. Es wird einfach weniger zurückgehalten und auch im Zweifelsfall wird eine Meldung gemacht. Das war früher, glaube ich, nicht so.
Gesellschaft Kinderschutz – Signale der Gewalt erkennen
Für Tausende Kinder in Deutschland ist das eigene Zuhause kein sicherer Ort. Sie werden geschlagen und misshandelt. Mehr als 60.000 Fälle von solcher Gewalt wurden 2020 gemeldet. Die Dunkelziffer ist um einiges höher. Wie und wo finden betroffene Kinder Schutz?
SWR Aktuell: Woher bekommen Sie die Meldungen über mögliche Kindeswohlgefährdungen?
Urmes: Die Meldungen kommen von Schulen und Kitas sowie der Polizei. Eine ebenso hohe Meldungszahl kommt aber auch aus dem Lebensumfeld der Kinder. Also aus der Verwandtschaft, Bekanntschaft oder Nachbarschaft.
Dabei geht es um alles Mögliche. Vom Schulbesuch, der nicht regelmäßig stattfindet, Eltern denen unterstellt wird, dass sie Drogen nehmen, bis hin zur Verwahrlosung. Wir hatten aber auch schon Meldungen, weil ein Kind nie vernünftiges Essen in der Kita dabei hat, sondern immer nur ein Nutellabrot.
Man muss aber auch sagen, dass es auch etliche Meldungen gibt, wo es um das Thema körperliche Gewalt geht. Das sind dann die Kinderschutzfälle, bei denen es wirklich um Misshandlungen oder schweren sexuellen Missbrauch geht. Auch wenn das nicht täglich vorkommt, ist das leider Tagesgeschäft.
SWR Aktuell: Wenn diese Gefährdungsmeldungen bei Ihnen eintreffen, wie gehen Sie dann vor?
Urmes: Wir gehen allen Fällen nach. Wir haben dafür einen Gefährdungsdienst. Das sind zwei Kolleginnen und Kollegen, die nichts anderes machen, als Mitteilungen aufzunehmen und denen nachzugehen. Da ist also der Hausbesuch tatsächlich der erste Weg.
Man spricht vielleicht noch mit Kita oder Schule, um sich einen Eindruck zu verschaffen, aber der erste Weg ist wirklich hinzugehen, um sich die Kinder und deren Lebensumstände anzuschauen, um dann eine erste Einschätzung zu treffen. Zum Beispiel, wenn es um das Thema Verwahrlosung oder Misshandlung geht, dass man dort ganz konkret schaut, ob es Hinweise oder Spuren darauf gibt. Pro Meldung liegt der Arbeitsaufwand mit allem, was dran hängt, durchschnittlich bei 20 bis 22 Stunden.
SWR Aktuell: Welche Handlungsmöglichkeiten hat das Jugendamt in solchen Fällen?
Urmes: Also zuallererst geht es ja darum, die Gefahrensituation abzuwenden. Unser erster Auftrag ist, Familien zu erhalten und Familien zu unterstützen. Das heißt, es wird ein Schutzkonzept erarbeitet und schriftlich festgehalten. Es werden Hilfen angeboten.
Bei akuten Fällen wird versucht - auch wenn es mittlerweile schwierig ist - relativ zeitnah Hilfen einzusetzen. Zum Beispiel eine sozialpädagogische Familienhilfe. Die erarbeitet beispielsweise, wenn es um das Thema Verwahrlosung geht, mit den Eltern ein Konzept, um die Wohnung wieder bewohnbar zu machen.
Auch wenn in der Familie ständig Konflikte auftreten, die auch hier und da mal eskalieren, schicken wir jemanden, der die Eltern pädagogisch anleitet, um mit diesen Situationen umzugehen. Wenn die Situation jedoch so akut ist, dass die Gefahr nicht zeitnah abgewendet werden kann – zum Beispiel bei einem schwerstmisshandelten Kind oder einem hohen Grad an Verwahrlosung, dann gibt es das Instrument der Inobhutnahme.
SWR Aktuell: Die Kinder aus den Familien zu holen, ist ja eigentlich das letzte Mittel der Jugendämter. In welchen Fällen wird das angewendet?
Urmes: Das sind in der Regel tatsächlich Fälle von Verwahrlosung oder wenn der Verdacht besteht, dass den Kindern Gewalt angetan wird. Ganz oft sind aber auch sogenannte Selbstmelder dabei. Dabei handelt es sich also um Kinder und Jugendliche, die sich selbst bei uns melden und um Inobhutnahme bitten.
Die Gründe dafür können ganz profan sein: Von 'Ich werde zu sehr eingeschränkt zuhause' über "Ich darf keinen Kontakt mit dem Freund oder der Freundin haben" bis hin zu "Die Eltern wollen, dass ich am Wochenende um 22.00 Uhr zu Hause bin." Da geht es also um Erziehungskonflikte.
Es gibt aber natürlich auch Fälle, wo es darum geht, dass die Kinder sagen: 'Ich werde zu Hause sehr stark psychisch belastet, habe Eltern, die sich nicht kümmern' oder es geht auch um das Thema Gewalt.
2023 gab es bei uns rund 45 Inobhutnahmen. Etwa die Hälfte davon sind sogenannte Selbstmelder. Diese Fälle sind also gar nicht so selten und dann sind wir auch gesetzlich dazu verpflichtet, die Inobhutnahme durchzuführen.
Verlassene Eltern Wenn sich die Kinder von der Familie trennen
Funkstille mit der eigenen Familie: Es ist ein Tabuthema, wenn Kinder den Kontakt zu Eltern abbrechen. Ärztin und Psychotherapeutin Dunja Voos hat unsere Fragen zum Thema beantwortet.
SWR Aktuell. Gibt es auch Fälle, bei denen die Eltern aktiv um Hilfe bitten?
Urmes: Das passiert ganz häufig, dass Eltern kommen und sagen: "Wir kommen überhaupt nicht mehr klar, bitte macht jetzt was". Das fällt aber nicht unter die Inobhutnahmen, sondern in die Statistik der sogenannten Hilfen zur Erziehung. Denn das sind Hilfen, die von den Eltern beantragt werden.
Da geht es zum Beispiel um Jugendliche, die Straftaten begehen - wobei wir da auch ganz schnell am Ende sind, weil wir kein Ersatz für die Strafjustiz sind. Es sind aber auch Eltern mit kleinen Kindern dabei, die sich manchmal zumindest temporär nicht in der Lage sehen, das Wohl der Kinder sicherzustellen.
Das ist bestimmt für jeden Elternteil ein sehr schwerer Schritt so etwas zu tun, aber die Eltern handeln eigentlich richtig und verantwortungsvoll. Sie lassen es nicht darauf ankommen, dass eine Situation eskaliert. Und dann muss man gemeinsam überlegen, was geht. Das bedeutet nicht unbedingt, dass die Kinder sofort woanders untergebracht werden, denn das wird auch immer schwieriger. Man schaut dann gemeinsam wo liegt der Bedarf und gibt es eine Möglichkeit, die Situation auch anders zu lösen.
SWR Aktuell: Wenn die Kinder aus den Familien geholt werden, gibt es genug Möglichkeiten sie unterzubringen?
Urmes: Nein, mittlerweile nicht mehr. Im Eifelkreis haben wir zwar noch viele Pflegefamilien, aber wir bräuchten mehr und suchen auch ständig. Im Heimbereich ist die Situation seit langem schon sehr, sehr schwierig. Da schlägt der Fachkräftemangel enorm zu. Viele Heimgruppen wurden in den letzten Jahren geschlossen, das heißt, auch die Kapazitäten der großen Träger sind deutlich zurückgegangen.
Früher hatte man bei einem schwierigen Fall zwei bis drei Heime abgefragt und hatte dann einen Platz. Das geht jetzt nicht mehr. Wir hatten zwei Fälle innerhalb des vergangenen Jahres, bei denen ich in ganz Deutschland 300 Heime angefragt habe. Ich wusste bis dato gar nicht, dass es so viele gibt. Mittlerweile ist die Nachfrage nach Plätzen so hoch, dass sich die Heime, die Fälle die sie aufnehmen, aussuchen können.
Mehr Fälle aber zu wenig Personal Jugendhilfe-Einrichtung in Bingen platzt aus allen Nähten
Wenn Kinder oder Jugendliche wegen einer Notsituation nicht mehr Zuhause leben können, nimmt das Jugendamt sie sofort aus ihren Familien heraus. Oft fehlen aber freie Plätze in den Einrichtungen.
SWR Aktuell: Ist die Arbeitsbelastung der Jugendämter in den vergangenen Jahren gestiegen?
Urmes: Ja, da hat sich definitiv gesteigert, aber aus ganz verschiedenen Gründen. Man hat beispielsweise Jugendliche mit Suchterkrankungen oder Kinder, die eine psychiatrische Behandlung benötigen. Diese Fälle gab es früher auch schon, aber die Plätze in den Psychiatrien sind sehr rar gesät, weil die Häuser einfach randvoll sind. Das macht es dann schwierig, diese Fälle fachlich zu händeln.
Dazu kommt, dass sich der gesetzliche Rahmen verändert hat. Es gibt neue fachliche Standards und immer wieder was dazu. Das ist auch richtig, aber das umzusetzen ist nicht immer einfach. Der Aufwand ist groß und gleichzeitig ist es schwer, Personal für diesen Bereich zu finden.
Gerade im sozialpädagogischen Bereich gibt es einen hohen Fachkräftemangel und es gibt kaum Bewerbungen auf offene Stellen. Und die Frage, wie das weitergehen soll, wo uns das hinführt, treibt uns schon seit einigen Jahren um.
Bundesweite Recherche von REPORT MAINZ SWR-Umfrage: 327 Jugendämter überlastet - Expertin schlägt Alarm
In vielen Jugendämtern leiden die Mitarbeitenden unter Personalmangel und Überlastung. Das hat eine bundesweite Umfrage des ARD-Politikmagazins REPORT MAINZ ergeben.
SWR Aktuell: Gibt es Fälle, die Ihnen in Ihrer bisherigen Laufbahn im negativen Sinne besonders in Erinnerungen geblieben sind?
Urmes: Da gibt es viele. In einem aktuellen Fall besteht der Verdacht, dass zwei kleine Kinder missbraucht wurden. Das Ganze soll auch gefilmt worden sein. Dort laufen aktuell die Ermittlungen.
Bei einem anderen Fall haben Eltern ihre Kinder verwahrlosen lassen. Dort im Haus haben die Toiletten nicht mehr funktioniert, überall lagen Fäkalien und die Kinder waren von Läusen und Flöhen befallen. Ich habe Kinder gesehen, die körperlich extrem misshandelt wurden.
Das nimmt einen natürlich mit, das kann man dann nicht einfach so abschütteln. Trotzdem muss man professionell damit umgehen und seinen Job machen. Es gibt immer wieder Situationen, bei denen auch erfahrene Kollegen hier ankommen und sehr aufgewühlt sind. Dann versucht man, die irgendwie runterzuholen.
Hier ist aber auch ein funktionierendes und gutes Team wichtig, das sich gegenseitig unterstützt. Wenn ich früher solche Fälle hatte, war für mich das Beste, am Ende des Tages fünf oder zehn Kilometer laufen zu gehen. Aber das machen alle unterschiedlich.
SWR Aktuell: Was wünschen Sie sich für die Kinder und Jugendarbeit?
Urmes: Im Grunde genommen das was, was wir uns immer gewünscht haben: Dass wir vernünftige Arbeitsbedingungen haben. Dabei geht es nicht nur um die Vergütung – die ist in den vergangenen Jahren besser geworden – sondern auch darum, dass wir eine gute personelle Ausstattung haben.
Was außerdem wichtig wäre, ist, dass es eine bessere Zusammenarbeit mit der Justiz gibt, gerade wenn es um Kinderschutzfälle geht. Das hat sich deutlich auseinanderdividiert. Da gibt es keine Zusammenarbeit mehr mit dem gleichen Ziel, sondern es hat so ein bisschen was von Gegnerschaft.
Da werden Elternrechte über alles gestellt. Das bezieht sich vor allem darauf, wenn Fälle vor dem Familiengericht verhandelt werden, nachdem Kinder aus den Familien genommen wurden. Da ist es oftmals so, dass die Kinder zu schnell wieder zurückgeschickt werden. Auch wenn es ein Restrisiko gibt. Das wäre so ein Ansatz, wo der Gesetzgeber und die Justiz die Kinder mehr in den Fokus nehmen sollten. Auch mit Blick darauf, dass ein Kinderschutz ebenbürtig ist."