Statt ins Münster geht's zur Bahnhofsmission, statt ins Fischerviertel in die Vesperkirche. Bei der Stadtführung "Blickwinkel" zeigen Wohnungslose die Stadt Ulm aus ihrer Perspektive.
Wärmestube, Übernachtungsheim und Ulmer Nester - nicht unbedingt die Orte, die bei einer normalen Stadtführung auf dem Programm stehen. Jörn Zweng, in Ulm vor allem bekannt als Lemmy, zeigt als ehemaliger Wohnungsloser, wie er die Stadt sieht und was er erlebt hat, als er "Platte machte".
"Ich bin der Lemmy, das ist der Knopf und wir sind heute alle per Du!" - so startet Jörn "Lemmy" Zweng seine alternative Stadtführung vor der Caritas-Wärmestube in der Bessererstraße. Immer an seiner Seite: sein Hund Knopf. Die beiden führen an diesem Tag eine Gruppe von Studentinnen und Studenten durch die Stadt Ulm
Angebot der Caritas: Ulm aus einer anderen Perspektive
Die Führung bietet die Caritas auf Anfrage an. Wohnungslose und ehemalige Wohnungslose, wie Lemmy, zeigen den Leuten Orte, an denen sie vermutlich sonst einfach vorbei gelaufen wären. Die Führungen sind kostenlos, Spenden gehen direkt an die Stadtführer.
Von der Wärmestube führen Lemmy und Knopf die Studentengruppe ins DRK-Übernachtungsheim. "Ich find's saugut, dass es so etwas gibt. Ist aber Hardcore!", sagt der 53-Jährige. Hardcore - damit meint er die Schlafsäle, die sich die Wohnungslosen zu elft teilen müssen. Privatsphäre? Fehlanzeige. Aber eben Alltag für manche Menschen.
"Krass", murmeln die Studierenden, als sie mit Lemmy das Übernachtungsheim verlassen. Es geht kreuz und quer durch die Stadt. Und Lemmy erzählt Lebensweisheiten und Anekdoten von der Straße. Dass sich Friedhöfe zum Übernachten anbieten, Vordächer von Schulen lieber nur in den Ferien. "Sonst musste vor 7 Uhr schon weg."
Ulms bekanntester Zeitungsverkäufer hat selbst jahrelang "Platte gemacht"
Rund zehn Jahre hat Lemmy "Platte gemacht", also auf der Straße gelebt. In Ulm kennt man ihn. Eigentlich steht er in der Platzgasse zwischen Blumenladen und Metzgerei und verkauft die Obdachlosenzeitung "Trottwar". Dadurch hat er es in ein geregeltes Leben geschafft und wohnt heute in einer Wohnung.
Die Straße kennt Lemmy aber immer noch wie seine Westentasche. Auf dem Programm der Stadtführung stehen noch die Vesperkirche, die Ulmer Nester - inklusive Probeliegen -und die Bahnhofsmission. Orte, an denen die Studierenden ohne ihren Stadtführer womöglich vorbei gelaufen wären.
Am Ende gibt es Applaus, die Gruppe übergibt Lemmy als kleines Dankeschön Schokolade und Gutscheine. Die Einblicke waren für sie eindrucksvoll. Denn auch wenn Lemmy sehr humorvoll über "die Platte" erzählt: Es ist ein Leben, das für Menschen auf der Straße alles andere als einfach ist.
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