Für viele Menschen ist die Pandemie abgehakt. Doch bei psychischen Folgen für junge Menschen steht der Höhepunkt erst bevor, sagt der Chefarzt der Kinder- und Jugendpsychiatrie Esslingen.
Gunter Joas leitet die Kinder- und Jugendpsychiatrie in Esslingen. Seit 25 Jahren arbeitet er mit Kindern und Jugendlichen - doch die aktuelle Lage erschreckt selbst ihn, sagt Joas im Interview. Auch die SWR-Befragung "Familien in Krisenzeiten" zeigt: Viele Eltern fordern mehr psychologische Beratungsangebote für Kinder.
SWR Aktuell: Herr Dr. Joas, Corona ist für viele Menschen Vergangenheit. Das Leben sieht wieder so aus wie vorher. Haben auch Kinder und Jugendliche die Pandemie abgehakt?
Dr. Gunter Joas: Nein, überhaupt nicht. Die Not vieler Kinder und Jugendlicher ist zurzeit sehr groß. Die Anzahl der Notfälle bei uns in der Kinder- und Jugendpsychiatrie in Esslingen ist immens. Psychische Probleme nach einer Ausnahmesituation wie Corona schlagen oft erst mit zeitlicher Verzögerung durch - und genau das sehen wir jetzt.
Neben Corona-Spätfolgen macht auch der Ukraine-Krieg vielen Kindern Sorgen. Davon berichtet auch Familie Schoch aus Dummingen im Kreis Rottweil:
SWR Aktuell: Warum geht es Ihren jungen Patienten gerade jetzt so schlecht?
Joas: Nach Corona ist der "Tank" vieler Kinder und Jugendlicher komplett leer. Ihre psychischen Abwehrkräfte sind aufgebraucht. Die meisten Erwachsenen konnten während der Pandemie weiter ihrem Beruf nachgehen, einige waren sogar ganz glücklich im Homeoffice. Deshalb vergessen Erwachsene leicht, dass die Zeit für Kinder und Jugendliche hingegen wie "ausgestanzt", nicht vorhanden war. Schule ist nicht nur ein Ort des Lernens, sondern auch ein Ort der Begegnung. Jugendfreizeit, Tanzkurs, Konfirmation oder einfach mit Gleichaltrigen "abhängen", was für Jugendliche sehr wichtig ist - all das war nicht mehr möglich. Vieles ist da noch nicht aufgearbeitet, trotzdem erwarten viele Erwachsene von jungen Menschen jetzt, dass sie wieder "marschieren" und einfach wieder funktionieren, als wäre nichts gewesen. Aber wir sehen eben: der Ausnahmezustand, den die jungen Menschen erlebt haben, führt jetzt zu einer Zunahme von Ängsten, Depressionen und Essstörungen.
SWR Aktuell: Wie äußert sich das?
Joas: Zum Beispiel konsumieren Jugendliche mehr Schmerzmittel und Benzodiazepine - das sind starke, verschreibungspflichtige Beruhigungsmittel - als früher. Das zeigen bundesweite Studien, aber auch Blut- und Urinuntersuchungen hier bei uns in Esslingen. Teilweise tauchen die Namen solcher Medikamente bei Rappern wie Rin in Songtexten auf. "Popp' 'ne Xanny, Bitch" singt Rin in einem Lied. Dabei steht "Xanny" für das Beruhigungsmittel Xanax. Viele Familien haben solche Medikamente im Arzneimittelschrank zu Hause - zum Beispiel das Schmerzmittel Tilidin. Tilidin wurde von dem Rapper Capital Bra besungen. Solche Medikamente werden als "Downer" bezeichnet. Jugendliche geben an, dass sie sich nach Einnahme fühlen wie in Watte gepackt. Wenn Kinder und Jugendliche solche Tabletten nehmen, zeigt das für mich: Da ist offensichtlich eine große Anspannung, Angst und ein Stresserleben da und ein ganz starkes Bedürfnis danach, Abstand zu bekommen und irgendwie abschalten zu können.
SWR Aktuell: Finden junge Menschen mit psychischen Problemen schnell genug Hilfe?
Joas: Leider nein. Die niedergelassenen Therapeuten sind ausgebucht und es dauert Monate, bis sie einen Therapieplatz anbieten können. In den Kliniken sieht es ebenso prekär aus. In der Kinder- und Jugendpsychiatrie Esslingen zum Beispiel haben wir 30 stationäre Plätze und elf in der Tagesklinik. Aber weil wir immer Kapazitäten für Notfälle vorhalten müssen, warten Familien auch bei uns mehrere Monate auf eine Behandlung.
SWR Aktuell: Der baden-württembergische Sozialminister Manfred Lucha hat 2021 eine Taskforce mit dem Namen "Psychische Situation von Kindern und Jugendlichen in Folge der Corona-Pandemie" ins Leben gerufen. Ein Ergebnis dieser Arbeitsgruppe: 120 zusätzliche Plätze in der Kinder- und Jugendpsychiatrie. Das klingt auf den ersten Blick nach einem ordentlichen Paket, oder?
Joas: Ich bin selbst Mitglied der Taskforce und zunächst einmal sehr froh über diesen Schritt. Aber es sieht aktuell leider danach aus, dass die Kliniken im Land diese 120 Betten gar nicht abrufen können, weil die Betten auf zwei Jahre begrenzt sind. Das macht die Umsetzung fast unmöglich.
SWR Aktuell: Warum?
Joas: Es fängt bei den Räumen an: Bei uns in Esslingen war die Station schon vorher voll. Wir haben jetzt alle Einzelzimmer geopfert und nur noch Doppelzimmer. Weitere sechs Betten aus diesem Paket versuchen wir im Spätsommer an den Start zu bringen. Das nächste Problem zeigt sich aber beim Personal. Versuchen Sie mal, einen fertig ausgebildeten Arzt anzuwerben, dem Sie nur für zwei Jahre einen Vertrag anbieten können. Meine große Sorge ist deshalb, dass diese 120 Betten nicht vollständig abgerufen werden und die Krankenkassen uns dann in der nächsten Verhandlungsrunde sagen: "Naja, so groß kann das Problem ja nicht sein, wenn ihr die Betten gar nicht abruft." Wir brauchen eine langfristige Ausweitung der Behandlungskapazitäten.
SWR Aktuell: "Mein Kind muss zum Psychologen" - viele Eltern fühlen sich bei dem Gedanken schuldig. Was raten Sie Eltern?
Joas: Leider suchen sich viele Familien zu spät Hilfe. Dann sind die Erkrankungen oft schon chronisch und viel schwieriger zu behandeln. Ich bedauere es sehr, dass Eltern noch immer mit der Kinder- und Jugendpsychiatrie als "Klapse" fremdeln und ärztliche Hilfe im kinder- und jugendpsychiatrischen Bereich noch immer stigmatisiert wird.
Wichtig ist mir auch: Es geht bei psychischen Problemen von Kindern nicht um die Schuld der Eltern. Schuld gibt es für mich bei sexuellem Missbrauch und bei jeglicher Form der körperlichen Gewalt. Bei allem anderen geht es um Muster, die man gemeinsam ansehen und womöglich ändern muss, aber nicht um Schuld. Eine kinder- und jugendpsychiatrische Behandlung bedeutet für mich mit dem betreffenden Kind und seiner Familie etwas Neues zu wagen unter Wertschätzung des bisher Geleisteten. Ich rate allen Eltern, sich frühzeitig Hilfe zu holen und das Gespräch zu suchen, wenn sie sich Sorgen um ihr Kind machen. Im ersten Schritt kann das zum Beispiel ein Termin beim Schulsozialarbeiter oder bei einer Schulpsychologin sein.
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