Der Maßregelvollzug in BW ist voll. So voll, dass Sozialminister Manfred Lucha (Grüne) von einer "Drucksituation" spricht. Und für diese sei die Justiz verantwortlich.
Der Maßregelvollzug in Baden-Württemberg platzt zurzeit aus allen Nähten. 1.425 Personen sind im Land in der forensischen Psychatrie, wie der Maßregelvollzug auch genannt wird, untergebracht. Und das sind deutlich zu viele. Sozialminister Lucha räumte zuletzt im Sozialausschuss des Landtags ein, dass 34 Straftäterinnen und Straftäter wegen abgelaufener Fristen und mangelnder Kapazitäten auf freien Fuß gesetzt werden mussten. Verantwortlich für die aktuelle Situation laut Lucha: die baden-württembergische Rechtsprechung.
Lucha: Gerichte weisen zu viele Menschen ein
Die aktuelle Zahl von 1.425 im Maßregelvollzug untergebrachten Personen entspricht einer Steigerung von 36 Prozent innerhalb von fünf Jahren. Die Gerichte im Land brächten einfach zu viele psychisch kranke oder suchtkranke Personen in den Einrichtungen unter, so Lucha. Und wenn dort die Therapieplätze fehlen, müssten verurteilte Straftäter wegen abgelaufener Fristen wieder freigelassen werden. Für die Opposition im Landtag ein Unding: "Die Hütte brennt", so der FDP-Vizechef im Landtag, Jochen Haußmann, im Dezember.
Justizministerium: Bei Urteilen werden Gutachten berücksichtigt
Das baden-württembergische Justizministerium unter Ministerin Marion Gentges (CDU) bestreitet den Vorwurf des Sozialministers. Eine Sprecherin erklärte auf SWR-Anfrage, in der Aussage Luchas schwinge mit, dass Gerichte "abweichend von gutachterlichen Stellungnahmen", also eigenwillig, Maßregelvollzug für Straftäterinnen und Straftäter anordneten. Das sei aber entschieden zurückzuweisen.
Bei der Einweisung von Personen in den Maßregelvollzug sind Richterinnen und Richter an strenge gesetzliche Vorgaben gebunden. Unter anderem müssen gutachterliche Stellungnahmen zu den einzelnen Fällen von den Gerichten "stets berücksichtigt werden", so das Justizministerium. Bei diesen Gutachten bewerten Sachverständige mit medizinischem oder psychiatrischen Hintergrund ob eine Therapie im Rahmen des Maßregelvollzugs für den oder die Angeklagte sinnvoll ist.
Immer mehr Einweisungen Maßregelvollzug in BW stark überbelegt
Der Maßregelvollzug in Baden-Württemberg platzt aus allen Nähten. Der zuständige Gesundheitsminister Lucha macht steigende Einweisungen für diese "Drucksituation" verantwortlich.
Laut Justizministerium gibt es zurzeit keine Anhaltspunkte dafür, dass Richter Personen in den Maßregelvollzug einweisen, die bei diesen Gutachten als nicht therapierbar ausgewiesen wurden. Richterinnen und Richter würden bei ihren Entscheidungen immer die "fachliche Einschätzung" der Gutachterinnen und Gutachter berücksichtigen.
Das Ministerium verweist ebenfalls auf eine Umfrage aus dem Jahr 2021, die es selbst bei Staatsanwaltschaften durchführte. Die Erhebung hatte zum Ergebnis, dass in 96 Prozent der Fälle, in denen die Therapie nicht erfolgreich waren, auch die sachverständigen Gutachterinnen und Gutachter die Erfolglosigkeit des Maßregelvollzugs nicht voraussagen konnten.
OLG Stuttgart: Entscheidungen nicht nach Ermessen des Gerichts
Auch das Oberlandesgericht (OLG) in Stuttgart sieht die Verantwortung nicht bei den Gerichten. Es verweist auf die Rechtslage, wonach sich die Richterinnen und Richter neben den Gutachten von Sachverständigen auch am Gesetz orientieren müssen.
Die Unterbringung im Maßregelvollzug sei "zwingend" anzuordnen, wenn die gesetzlichen Voraussetzungen dafür vorliegen, so das OLG auf Anfrage des SWR. Die Entscheidung liege somit nicht im Ermessen der Gerichte. Rücksicht auf überfüllte Einrichtungen könne und dürfe bei der Entscheidung der Gerichte keine Rolle spielen.
Beide Seiten sehen Reformbedarf der Gesetzeslage
Obwohl Sozial- und Justizministerium sich in der Frage, wer nun die Verantwortung für den immer voller werdenden Maßregelvollzug trägt, widersprechen, sind sie sich doch in einer Sache einig: Die zugehörige Gesetzeslage gehört reformiert. So waren beide Ministerien in einer Bund-Länder-Arbeitsgruppe zur Erneuerung der Gesetze vertreten. Konkret ging es dabei um die Unterbringung suchtkranker Menschen in Entziehungsanstalten des Maßregelvollzugs.
Ziel der Arbeitsgruppe war es, die Voraussetzungen für eine derartige Unterbringung enger zu fassen. Auch sollte die vorzeitige Entlassung aus dem Vollzug nach zwei Dritteln der verhängten Zeit leichter ermöglicht werden. Im Dezember 2022 beschloss die Bundesregierung einen Gesetzesentwurf, der Teile der Ergebnisse der Arbeitsgruppe enthält.
Im konkreten Fall des überfüllten Maßregelvollzugs in Baden-Württemberg soll das ehemalige Gefängnis "Fauler Pelz" in Heidelberg Abhilfe schaffen. Das Sozialministerium wollte bis Sommer 2025 Täterinnen und Täter in dem landeseigenen Gebäude unterbringen - so lange bis neue Standorte in Winnenden und Schwäbisch Hall fertiggestellt sind. Die Stadt Heidelberg wehrte sich, es kam zum Rechtsstreit. In diesem gebe es nun ein Schlichtungsverfahren, so Lucha. Aus Sicht der BW-FDP hat die Landesregierung in dem Streit viel Zeit und Ansehen verloren.