Was steckt hinter dem Attentat auf eine Trauerfeier in Altbach und den Schüssen im Raum Stuttgart? Der Innenausschuss des Landtages tagte am Mittwoch - und brachte mehr Klarheit.
Nach dem Handgranaten-Anschlag auf eine Trauergemeinde in Altbach (Kreis Esslingen) und den Schüssen im Großraum Stuttgart hat die Polizei 20 Verdächtige festgenommen und zahlreiche Waffen sichergestellt. Es gebe Anhaltspunkte, dass es zwischen den Taten Zusammenhänge gebe, so Baden-Württembergs Innenminister Thomas Strobl (CDU) nach einer Sitzung des Innenausschusses des Landtags am Mittwoch.
Er erklärte aber auch: "Nach dem derzeitigen Ermittlungsstand sind aber diese rivalisierenden, gewaltbereiten Gruppen junger Männer mit einem vielfältigen Migrationshintergrund jetzt nicht unmittelbar der Organisierten Kriminalität oder der Clan-Kriminalität zuzuordnen." Es gehe hier auch nicht um politische Rivalitäten. Die Tatmotivation der Gruppen sei "schwer fassbar".
Schuss-Serie in Stuttgart: Strobl spricht von "erfolgreichen Ermittlungen"
Strobl sprach gleichwohl von "sehr erfolgreichen Ermittlungen". Man habe bei Durchsuchungen Waffen im zweistelligen Bereich sichergestellt, darunter eine Maschinenpistole. "Der Besitzer der Maschinenpistole befindet sich zwischenzeitlich ebenfalls in Untersuchungshaft."
Der CDU-Politiker zeigte sich zuversichtlich: "Ich bin ganz sicher, dass das Tatgeschehen rückstandslos aufgeklärt werden wird." Die Opposition zeigte sich enttäuscht von den Informationen durch das Innenministerium. SPD-Innenexperte Sascha Binder beharrt auf einem "Sonderlagebericht".
Polizei: Verdeckter Ermittler rannte in Altbach um sein Leben
Außer Strobl standen auch der Chef des Landeskriminalamts (LKA), Andreas Stenger, und der Präsident des Polizeipräsidiums Stuttgart, Markus Eisenbraun, im Innenausschuss Rede und Antwort. Dabei ging es auch um die Frage, warum verdeckte Ermittler den Friedhof nach dem Anschlag fluchtartig verlassen haben sollen. Eisenbraun bestätigte, dass man einen Zivilfahnder auf dem Friedhof gehabt habe.
"Als es aber zum Handgranatenwurf kam, wurde dieser eine Kollege, weil der Täter in seine Richtung flüchtete, als vermeintlicher zweiter Täter von der hochaggressiven Gruppe identifiziert und hat sich dann erstmal aus dem Ort des Geschehens entfernt, rennend entfernt, weil er um sein Leben fürchten musste."
Die restlichen Kräfte hätten in Altbach An- und Abfahrtswege kontrolliert. Es habe vorab keine Erkenntnisse gegeben, dass es einen Angriff auf die Trauerfeier geben könnte. Stattdessen habe man Hinweise gehabt, dass es wenige Tage später im Stuttgarter Stadtgebiet weitere Straftaten geben könnte.
"Wilder Westen" in Baden-Württemberg?
Rückblick: Der Handgranaten-Anschlag auf eine Trauergemeinde von etwa 400 Personen in Altbach, der um ein Haar vielen Menschen das Leben gekostet hätte, war der bisherige Höhepunkt der Auseinandersetzungen. Weil der mutmaßliche Attentäter "schlecht" zielte, wurde die Handgranate von einem Ast abgelenkt.
Zehn Trauergäste erlitten Verletzungen. Hintergrund sollen nach Angaben des Landeskriminalamts (LKA) "Auseinandersetzungen zweier rivalisierender gewaltbereiter Gruppierungen" sein. Ein 23-jähriger Mann sitzt in Untersuchungshaft, er soll bei der Trauerfeier für einen 20 Jahre alten Mann eine Handgranate geworfen haben.
Schon warfen Medien die Frage auf: "Wilder Westen in Baden-Württemberg?" Innerhalb eines Jahres hatte es im Großraum Stuttgart 14 Fälle geben, in den meisten Fällen wurde geschossen.
LKA-Chef sieht keinen "Bandenkrieg" im Großraum Stuttgart
LKA-Präsident Stenger erläuterte, dass sich die Struktur der Gruppierungen nur schwer zuordnen ließen. "Man kann hier nicht von einem Bandenkrieg sprechen, weil wir keine Bandenstrukturen haben. Wir haben nicht mehrere, die mit einer klaren Hierarchie arbeitsteilig zusammenwirken, um fortlaufend Straftaten zu begehen, sondern wir haben junge Männer, die sich treffen, die über Social Media miteinander verbunden sind, die ihre Anlaufpunkte haben, an denen sie zusammenkommen."
Es gehe bei den Gruppen auch nicht um Drogenhandel. "Wir haben keine organisierten Strukturen, wo es um Machtgewinn, um festgefügte Strukturen mit Hierarchie geht. Wir haben auch keine Clan-Kriminalität." Die Gruppierungen hätten "keine ethnischen Klammern, sondern sie sind multiethnisch. Es sind auch viele Deutsche mit Migrationshintergrund dabei."
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Zuffenhausen-Göppingen gegen Esslingen-Ludwigsburg-Plochingen
Stenger erklärte, die Gruppen seien in etwa regional zuzuordnen: "Der Raum Zuffenhausen-Göppingen, da verorten wir eine Gruppe lose, es sind zum Teil auch nur Freundschaften. Und das andere ist mehr so der Bereich Esslingen, Ludwigsburg, Plochingen."
Der LKA-Chef sagte zudem, man treffe öfter auf alte Bekannte aus den seit 2013 verbotenen, rockerähnlichen Vereinen "Red Legend" und "Red Nation". "Man kann aber nicht sagen, dass das in dem Kontext klar zu verorten ist."
LKA: Verdächtiger ohne Perspektive flüchten sich in eine Subkultur
Stenger erläuterte, wie die Gruppen aus Sicht der Ermittler zusammengesetzt sind: "Wir können feststellen: jung, männlich, zwischen 19 und 26 Jahre, multiethnisch, die in losen Verbindungen zusammenkommen. Die Soziologen sprechen hier von gewaltlegitimierter Männlichkeit mit einer Ehrenkultur, da rankt sich viel um Anerkennung, um Respekt in der unmittelbaren Peergroup."
Es handele sich um Männer, "die sozial keine guten Prognosen haben, die im schulischen Kontext nicht erfolgreich sind, die keine guten beruflichen Perspektiven haben. Und für die ist es ein Weg, auch mit exzessiver Gewalt in solchen Gruppierungen auf sich aufmerksam zu machen." Es seien auch oft junge Täter, die polizeilich noch nicht aufgefallen seien. Die versuchten "durch ihre exzessiven Taten ihre Stellung in diesen Peergroups, in diesen Gruppen zu festigen oder überhaupt erst zu erreichen".
Der Chef des LKA Andreas Stenger über die Taten im Umkreis von Stuttgart:
Die jungen Männer flüchteten sich "in eine Subkultur, die auch geprägt ist davon, dass sie sich als Rapper, als Gangsta-Rapper sehen. Das ist so das Konglomerat an Ursachen, das wir sehen. Wir stellen fest, dass es eben nicht die klassische Bandenstruktur, Organisierte Kriminalität oder Täterstruktur gibt."
Was ist Clan-Kriminalität?
Lange taten sich Polizei und Politik schwer, eine gemeinsame Definition dafür zu finden, was Clan-Kriminalität eigentlich ist. Der Begriff "Bande" ist hier keine Hilfe, weil im Strafrecht schon von einer Bande die Rede ist, wenn drei Menschen regelmäßig zusammen Diebstähle begehen.
Doch im Bundeslagebild des Bundeskriminalamts (BKA) zu Organisierter Kriminalität aus dem Jahr 2021 gibt es erstmals eine Definition: "Ein Clan ist eine informelle soziale Organisation, die durch ein gemeinsames Abstammungsverständnis ihrer Angehörigen bestimmt ist. Sie zeichnet sich insbesondere durch eine hierarchische Struktur, ein ausgeprägtes Zugehörigkeitsgefühl und ein gemeinsames Normen- und Werteverständnis aus."
Darüber wird der Begriff "Clankriminalität" definiert: "Clankriminalität umfasst das delinquente Verhalten von Clanangehörigen. Die Clanzugehörigkeit stellt dabei eine verbindende, die Tatbegehung fördernde oder die Aufklärung der Tat hindernde Komponente dar, wobei die eigenen Normen und Werte über die in Deutschland geltende Rechtsordnung gestellt werden können. Die Taten müssen im Einzelnen oder in ihrer Gesamtheit für das Phänomen von Bedeutung sein."
Wo steht Baden-Württemberg bei Organisierter Kriminalität?
In Sachen Organisierter Kriminalität liegt Baden-Württemberg weit hinter Nordrhein-Westfalen oder etwa Berlin. In dem Lagebild von 2021 ist von 42 Fällen im Land die Rede, davon standen zwei Fälle in Zusammenhang mit Clan-Kriminalität. Zum Vergleich: In NRW wurden 140 Fälle von Organisierter Kriminalität registriert, 19-mal waren Clans beteiligt. Bundesweit geht es in diesen Fällen meistens um Drogenschmuggel- und -handel, Gewaltkriminalität und Geldwäsche. Das Innenministerium in Stuttgart erklärte, 2022 habe es 36 Verfahren im Bereich der Organisierten Kriminalität gegeben.
Die FDP-Innenexpertin Julia Goll kritisierte, dass der Vergleich mit anderen Bundesländern nicht weiterhelfe. "Die Sache wegzureden und sich mit anderen Bundesländern zu vergleichen, in denen noch schlimmere Zustände herrschen, hilft der Bevölkerung auch nichts." Das Sicherheitsempfinden der Bevölkerung sei erheblich beeinträchtigt.
Opposition im Landtag verlangt weitere Aufklärung
Auch aus Sicht der SPD sind noch immer zu viele Fragen offen - sie fordert weiter einen Sonderlagebericht von Strobl. "Im Gegensatz zum Ministerpräsidenten erkennen wir eine Sonderlage, es handelt sich nicht nur um einen Einzelfall", sagte SPD-Innenexperte Sascha Binder. Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Grüne) hatte den Sprengstoff-Angriff auf dem Friedhof in Altbach als "schlimmen und gravierenden" Einzelfall bezeichnet.
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