Kommunalwahlen sind grundsätzlich komplizierter als andere Wahlen. Auf Menschen mit Behinderung kommen zusätzliche Herausforderungen zu - vor allem auf Sehbehinderte.
Fünf Wochen vor der Europa- und Kommunalwahl rufen Behindertenverbände Menschen mit Behinderung dazu auf, wählen zu gehen. Denn der eine oder die andere scheut sich aufgrund vieler Hürden, vom Wahlrecht Gebrauch zu machen. Leider zeigt sich: Eine vollständig barrierefreie Wahl ist auch 2024 im Grunde nicht gewährleistet. Das liegt unter anderem an der Komplexität von Kommunalwahlen.
Vorbereitungen in Krautheim laufen
Im Eduard Knoll Wohnzentrum in Krautheim (Hohenlohekreis) sind in diesen Tagen die Unterlagen für die Europawahl und Kommunalwahl angekommen. Viele im Haus werden die Briefwahl beantragen, sagt Bewohnervertreterin Carmen Faber. Das sei einfacher, als im Wahllokal die Stimme abzugeben. Das Wohnzentrum unterstützt die körperlich beeinträchtigten Bewohnerinnen und Bewohner etwa beim Briefwahlantrag oder beim Ausfüllen von Dokumenten, sagt Geschäftsführerin Nadine Wiese. Viele seien aber sehr selbstständig und lehnten das Angebot durchaus auch ab. Das bestätigt auch Carmen Faber, die selbst gerne die Hilfe beim Ausfüllen der Dokumente annimmt.
Alle im Haus würden sich vor den Wahlen gemeinsam informieren, was die Parteien in Bezug auf Teilhabe und Inklusion anbieten würden. Hilfe kommt dabei auch von der "Aktion Mensch".
5. Mai ist Europäischer Protesttag für die Gleichstellung von Menschen mit Behinderung
Die "Aktion Mensch" betont, wie wichtig jede Wahl für die Gleichberechtigung in der Gesellschaft ist. "Ein wirklich inklusives und vielfältiges Miteinander wird nur zur Realität, wenn es auch politisch gewollt und gestützt wird", heißt es in einer Mitteilung. Die Sozialorganisation listet auf ihrer Website auf, welche Parteien sich für Teilhabe und Barrierefreiheit einsetzen. Denn jede Stimme für Inklusion sei auch eine Stimme gegen Entwicklungen, die die Rechte von Menschen mit Behinderung in Frage stellen, heißt es weiter.
Am 5. Mai ist "Europäischer Protesttag für die Gleichstellung von Menschen mit Behinderung". Die "Aktion Mensch" will die verbleibenden fünf Wochen bis zur Europa- und Kommunalwahl in Baden-Württemberg nutzen, um umfassend zu informieren - etwa über die Programme der Parteien.
Menschen mit geistiger Behinderung wahlberechtigt
Menschen mit geistiger Behinderung oder kognitiver Beeinträchtigung haben bei der anstehenden Doppel-Wahl erstmals die Möglichkeit, ihre Stimme abzugeben. Der Main-Tauber-Kreis hat deshalb Workshops unter dem Namen "Einfach richtig wählen" angeboten, diese wurden vom Verein Mehr-Demokratie e.V. mitentwickelt. Der kommunale Behindertenbeauftragte Fabian Bayer sagte dem SWR, es gehe in den Workshops etwa darum, wie das Wahlsystem auf allen Ebenen funktioniert und warum es wichtig ist, zu wählen.
Er sagt, bei Kommunalwahlen hätten viele Menschen Verständnisprobleme, es gebe viele ungültige Stimmzettel. Für eine Person mit einer geistigen Behinderung sei die Kommunalwahl deshalb besonders anspruchsvoll. Deshalb wird in den Workshops ganz praktisch gearbeitet. So wird für eine Mustergemeindestadt ein Mustergemeinderat gewählt.
Bayer erhofft sich von diesem Pilotprojekt, dass Menschen mit geistiger Behinderung auf die Bedeutung ihrer Stimme aufmerksam gemacht werden und sie von dieser Gebrauch machen. Er sagt aber, es sei schwierig zu verhindern, dass die gesetzlichen Vertreter bei einer Briefwahl zuhause womöglich Einfluss auf die Stimmabgabe nehmen.
BSK: Großer Fortschritt beim Thema eigenständiges Wählen
Das sieht Karl Finke, Vorstand des Bundesverbands Selbsthilfe Körperbehinderter e.V. (BSK), der auch in Krautheim sitzt, anders: "Diese Zeiten sind vorbei!". Mit den Broschüren des Verbandes, mit Seminaren und Probewahlen gelinge es zunehmend, eigenständige Wahlen zu gewährleisten. Gesetzliche Vertreter würden sich immer seltener bei der Stimmabgabe einmischen. Er ruft alle Menschen mit Behinderung auf, eigenständig wählen zu gehen.
Die Themen bei der Europawahl, die ihm besonders am Herzen liegen, sind etwa der europäische Behindertenausweis. Der ermögliche eine bessere Mobilität und Teilhabe über die Ländergrenzen hinweg, sagt er. Die EU-Kommission hat hierzu einen Vorschlag vorgelegt. Bis der verabschiedet wird und die Mitgliedsstaaten ihn umsetzen, kann es aber noch dauern. Außerdem würde Finke gerne mehr Menschen mit Behinderung im Europaparlament sehen.
Keine Schablone für Blinde bei Kommunalwahlen
Dennoch scheint man hierzulande auf dem richtigen Weg zum barrierefreien Wählen zu sein: So können Menschen mit einer Sehbehinderung auch bei den meisten Wahlen mit einer Schablone teilnehmen. In die Wahlschablone sind Löcher eingestanzt, die den Kreisen zum Ankreuzen auf dem Stimmzettel entsprechen. Dazu gibt es noch eine Audio-CD, mit der man hören kann, an welcher Stelle welche Partei steht.
Für Europa-, Bundestags- oder Landtagswahlen gibt es jedes Mal eine neue Schablone, weil sich etwa die Anzahl der Parteien ständig ändert. Das bedeutet für den Blinden- und Sehbehindertenverband immer viel Arbeit in kürzester Zeit, erklärt Wolfgang Heiler von der Heilbronner Bezirksgruppe.
Das Problem: Für Kommunalwahlen sei das nicht zu leisten. Zu kompliziert und zu aufwändig sei es, für jede Kommune eine eigene Schablone anzufertigen, sagt Heiler. Von einer barrierefreien Wahl könne man bei Kommunalwahlen also nicht sprechen. Hier müssen sich Menschen mit Sehbehinderung also an einen Menschen des Vertrauens wenden.
Aus Heilers Sicht ist das sehr problematisch. Es müssten alle Wahlen so gestaltet sein, dass es für alle möglich sei, ohne fremde Hilfe zu wählen. Er fordert etwa ein elektronisches Gerät in der Wahlkabine, mit dem man sich alle Informationen vorlesen lassen kann - ähnlich wie bei einer elektronischen Fahrkartenbestellung.
Viele Sehbehinderte erhalten keine Hilfe
Was ihm auch Sorgen bereitet: viele Menschen, die eine nur leichte oder mittlere Sehbehinderung haben, würden auf ihr Wahlrecht verzichten. Sie sind beim Landratsamt nicht als blind geführt und erhalten keine Schablone. Für sie ist das Wählen deshalb sehr schwierig. Der Weg zum Wahllokal ist beschwerlich, das Ausfüllen des Stimmzettels schwer, eine andere Person um Hilfe zu bitten, erfordert Mut. So lassen es manche sehbehinderte Menschen laut Heiler "einfach bleiben". Das findet er schade und hofft, dass irgendwann alle Menschen ihr Wahlrecht ausüben können.
Das sieht auch Carmen Faber aus dem Krautheimer Eduard Knoll Wohnzentrum so: "Wählen ist wichtig!", sagt sie, Wer sich die Wahl nicht selbst zutraue, solle sich auf jeden Fall zutrauen, um Hilfe zu bitten.
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In unserem Online-Special finden Sie alle Informationen rund um die Kommunalwahl am 9. Juni 2024 in Baden-Württemberg.
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