Vor vier Jahren ging auch Baden-Württemberg in den ersten Lockdown. Ist das Land jetzt besser vorbereitet als zu Beginn der Corona-Pandemie?
Es waren dramatische Szenen, die sich vor vier Jahren abspielten. Immer mehr Menschen infizierten sich mit dem Coronavirus, zudem gab es in Nordrhein-Westfalen die ersten Todesfälle. Kurz darauf meldete auch Baden-Württemberg den ersten Corona-Toten. Um die Ausbreitung des Virus zu verlangsamen und damit die Krankenhäuser vor einer Überlastung zu schützen, erließ die baden-württembergische Landesregierung strenge Maßnahmen - noch bevor am 22. März 2020 der erste bundesweite Lockdown in Kraft trat. Es galten Kontaktverbote und Läden wurden geschlossen. Schülerinnen und Schüler kamen nach ihren Faschingsferien für einen Tag in die Schule, um Hausaufgaben für die Zeit des ersten Homeschoolings mitzunehmen. Wie lange alles dauern sollte, ahnte da noch niemand.
Was die Corona-Krise für die Menschen in Baden-Württemberg bedeutet hat, will eine SWR Aktuell-Serie beleuchten. Ein großes Problem war beispielsweise, dass Baden-Württemberg - wie andere Bundesländer auch - kaum Reserven an Schutzausrüstung hatte. Wie sieht es heute damit aus, und welche Lehren hat das Land daraus gezogen?
Kittel und Handschuhe aus der Autolackiererei in der Klinik?
Wenige Tage nach dem offiziellen Beginn der Corona-Krise bringt der Pressesprecher des RKH Klinikums Ludwigsburg in einem Interview mit dem SWR die Dramatik der Situation auf den Punkt. In seinem Klinikum geht der Bestand an Schutzausrüstung mit jeder Minute rapide zurück: OP-Masken, Schutzkittel und Handschuhe. Es sei noch Schutzausrüstung für wenige Tage da, danach müsse man sich überlegen, mit Schutzausrüstung aus der Autolackiererei weiterzumachen. Das sei schließlich besser als nichts.
So erklärte Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Grüne) damals die Maßnahmen und versicherte, dass sich eine Taskforce um Schutzausrüstung kümmere.
Schutzausrüstung aus China zu hohen Preisen
Die Antwort der Landesregierung lässt nicht lange auf sich warten: In einer Landespressekonferenz sagt Gesundheitsminister Manfred Lucha (Grüne): "Wir sind alles Chefbeschaffer. Wir telefonieren rund um die Uhr, Samstag, Sonntag auch. Mit unseren Vertretern der Industrie. Ob sie uns noch irgendwo etwas hochfahren können."
Die Landesregierung muss schließlich zu hohen Preisen in China einkaufen und selbst das gelingt nur dank schwäbischer Connections: mit der Hilfe eines industriellen Players mit Sitz in Baden-Württemberg.
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Vier Jahre danach: Baden-Württemberg deckt sich ein
Vier Jahre später ist das Ministerium des grünen Ministers damit beschäftigt, eine sogenannte Notreserve aufzubauen. Grundlage ist ein Kabinettsbeschluss aus dem Oktober 2023, der dem SWR vorliegt.
Es geht um einen Millionenbestand an Schutzmasken, OP-Kitteln und Handschuhen, ebenso FFP2-Masken im Wert von knapp fünf Millionen Euro. Ziel ist es, im erneuten Krisenfall in der Lage zu sein, die kritische Infrastruktur versorgen zu können: von der Arztpraxis bis zu Feuerwehr und Polizei.
Ende des Jahres soll die Aufgabe erledigt sein. Aus dem Sozialministerium heißt es dazu, dass 2,1 Millionen Masken bereits eingelagert seien. Ziel sind rund 4,7 Millionen FFP2-Masken, 8,4 Millionen OP-Masken sowie knapp 11 Millionen Schutzhandschuhe.
Auch in der SWR-Diskussionsreihe "Jetzt mal Tacheles" ging es zuletzt um die Lehren aus der Corona-Pandemie:
Notreserve an Masken und OP-Kitteln an unbekanntem Ort
Nach SWR-Informationen wird das Material an einem logistisch gut erreichbaren Ort in einer großen Lagerhalle eingelagert. Wo sich diese Notreserve genau befindet, will die Landesregierung geheim halten - aus Sicherheitsgründen. Zu groß ist die Sorge vor einem Brandanschlag.
Das Problem mit dem Mindesthaltbarkeitsdatum
Für die Einlagerung von Schutzausrüstung in Millionenanzahl gibt es allerdings ein kleines, aber doch bedeutendes Hindernis: das Mindesthaltbarkeitsdatum. Schon einmal wurden nach der Pandemie abgelaufene Masken einfach verbrannt. Ein Aufschrei ging durch die Medien.
Doch das Sozialministerium entwickelt eine Idee, wie das Problem mit dem Mindesthaltbarkeitsdatum zumindest teilweise gelöst werden kann. Weil die landeseigenen Unikliniken einen regelmäßigen Bedarf an Schutzausrüstung haben, beschließt man, das zu nutzen. Der Bedarf der Unikliniken soll mit der Notreserve abgedeckt werden. Die Mengen, die die Unikliniken Tübingen, Freiburg, Heidelberg und Ulm aus der Notreserve abziehen, sollen von ihnen wieder frisch eingestellt werden. So soll ein rollierendes System entstehen. Das sichert den Kliniken zudem gute Einkaufspreise, erklärt Philipp Weißeno, Abteilungsleiter für Beschaffung im Sozialministerium.
Zumindest ein Teil des Notmasken-Bestands erneuert sich auf diese Weise immer wieder. Was mit dem Rest passiert, zu dem auch eine große Menge an FFP2-Masken gehört, muss noch ausgehandelt werden. Möglicherweise können Masken, die kurz vor Ablaufdatum stehen, an Interessenten in der Industrie oder im Handwerk verkauft werden.
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FDP will Mindesthaltbarkeit für Masken großzügig auslegen
Die FDP-Fraktion im Landtag regt an, das Mindesthaltbarkeitsdatum etwas großzügiger auszulegen als über einen Stichtag. Niko Reith ist sozialpolitischer Sprecher der FDP-Fraktion und Mitglied in der Enquetekommission "Krisenfeste Gesellschaft" des Landtags. Er sagt: "Wenn es beim Verfallsdatum auch darauf ankommt, wie wir lagern und wie wir das vielleicht etwas strecken könnten, dann würde uns das natürlich sehr helfen."
Grundsätzlich stelle sich die Frage, woran sich das Verfallsdatum bemesse, so Reith. Seine Empfehlung: Auf die Hersteller zugehen und kritisch nachfragen, was passiert, wenn man eine Maske auch nach Verfallsdatum verwendet - ohne Auswirkungen sei das ja auch in anderen Fällen möglich, zum Beispiel bei Joghurt.
Notreserven zur Überbrückung bis Lieferketten wieder funktionieren
Übrigens: Die Notfallreserve des Landes ist darauf ausgelegt, 16 Wochen Überbrückung zu gewährleisten. "Die Erfahrungen in der Corona-Pandemie haben gezeigt, dass innerhalb dieses Zeitraums etwaige Produktionsengpässe überwunden sind, zum Beispiel durch eine lokale Produktion in Deutschland", erklärt Markus Jox, Sprecher im Gesundheitsministerium. Auch hier sollen Preisdeckel dafür sorgen, dass das Land im erneuten Krisenfall nicht zu viel bezahlt. Außerdem sollen für die Notreserve vorwiegend Produkte deutscher Hersteller eingekauft werden. So der Plan.
Vier Jahre nach der Corona-Pandemie erscheint die Notreserve wie ein Langzeitprojekt, das tatsächlich auch mit deutscher Genauigkeit umgesetzt wird: langsam, aber gründlich.
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Die Gesundheitsämter und die Faxgeräte
Doch Corona offenbart noch eine weitere Schwäche des Gesundheitssystems. Eine schnell überforderte Infrastruktur in den Gesundheitsämtern, die auch tatsächlich zum Teil Faxgeräte einsetzten, um Daten weiterzuleiten. Hinzu kam der Personalmangel. Bundeswehrsoldaten mussten bei der Kontaktverfolgung und bei der Erhebung der tatsächlichen Infektionen aushelfen.
Auch hier vier Jahre später der Check: Beim Landesgesundheitsamt (LGA) zeigt uns der Chefvirologe Stefan Brockmann ein seit Mitte März eingerichtetes Dashboard. Darin sind Infektionen in verschiedenen Landkreisen abrufbar. "Frei klickbar auf der Internetseite des LGA und in Echtzeit", erklärt Brockmann nicht ohne Stolz. Wer zum Beispiel wissen will, wie viele Influenza-Fälle es im Landkreis Emmendingen bereits dieses Jahr gegeben hat, der findet Zahlenmaterial. Knapp 700 waren es für die ersten elf Wochen des Jahres 2024, vergangenes Jahr gerade mal 98. Das hat auch mit den Corona-Maßnahmen zu tun: Dadurch spielte das Influenza-Virus kaum noch eine Rolle.
Entscheidend sei, dass aus den digitalen Daten schnell auch ablesbare Informationen generiert werden können, erklärt Brockmann. Aus komplizierten und schwer lesbaren Datensätzen können nämlich präzise Grafiken und Diagramme erstellt werden. Das erspare eine wertvolle Fachkraft.
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Von digitaler Verwaltung meilenweit entfernt
Doch auch hier ist noch lange nicht alles perfekt. Zwar gibt es mittlerweile viel Zahlenmaterial und die Informationen seien schneller verwertbar, doch der allgemeine Zustand der digitalen Landesverwaltung gebe zu denken, erklärt ein LGA-Mitarbeiter aus der IT-Abteilung. Chefvirologe Brockmann bestätigt, dass Kommunikationssysteme oder Laborsysteme leider "mal nicht funktionieren".
Es sei entscheidend, dass die Systeme, auf denen eigentlich die Reaktionsfähigkeit in einer Krise aufbauen, Systeme des Alltags sind - und dass sie funktionieren.
Auch der FDP-Abgeordnete Niko Reith sieht digitalen Handlungsbedarf: Von 'gut' könne man vier Jahre nach dem ersten Lockdown noch nicht sprechen. "Es nützt nichts, wenn ich da jetzt Computer in die Landesgesundheitsämter stelle, statt Faxe", sagt er. "Wir kriegen das nur digital hin, wenn ich das insgesamt in der digitale Verwaltung implementieren kann. Und davon sind wir noch meilenweit entfernt."
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