Elisabeth Seitz (MTV Stuttgart) hat ihre vierte Olympia-Teilnahme knapp verpasst. Die Turn-Europameisterin muss der jungen Helen Kevric den Vortritt lassen. Trotzdem kann Seitz unfassbar stolz sein, meint SWR-Sportredakteur Johannes Seemüller.
Was für eine bizarre Situation. Da saß Elisabeth Seitz bei der entscheidenden Olympia-Qualifikation in Rüsselsheim auf dem Hocker – und wartete. Soeben hatte sie ihre Stufenbarren-Übung absolviert und fieberte der Wertung entgegen. Just in diesem Moment setzte sich ausgerechnet Helen Kevric, 14 Jahre jünger und ihre härteste Konkurrentin im Kampf um das Olympia-Ticket, neben sie, um auf ihre Sprungwertung zu warten.
Dann leuchteten die 14.600 Punkte für Seitz auf. Die 30-jährige Grande Dame des deutschen Turnens kämpfte mit den Tränen. Sie wusste: Der große Traum von ihrer vierten Olympia-Teilnahme ist vorbei. Wahrscheinlich wäre sie am liebsten laut aufschreiend, fluchend, wutentbrannt und zutiefst enttäuscht aus der Halle gerannt. Aber Seitz machte das, was sie während ihrer langen Sportkarriere schon so oft gemacht hat. Sie riss sich zusammen - und gratulierte der jungen Kevric respektvoll. Eine faire Geste.
Was war das für eine Reise in den vergangenen Monaten. Oder war es eher ein Parforceritt? Im September 2023 hatte sich Seitz bei einer Bodenübung im Training die Achillessehne gerissen. War dies nicht das Signal ihres Körpers, nach über 20 Jahren mit dem Leistungssport Schluss zu machen? Seitz hätte diese schwere Verletzung zum Anlass nehmen können, um ihre erfolgreiche Karriere zu beenden. Aber so wollte die Ausnahmeturnerin nicht abtreten. Sie hatte so viel Zeit, Mühe, Schmerzen, Leidenschaft, Mut und Disziplin in diesen Sport gesteckt – sie brauchte ein gutes Ende. Und das sollten die Olympischen Spiele im Sommer in Paris sein. Seitz hatte sich in den zurückliegenden Jahren den EM-Titel geholt, sie hatte eine WM-Medaille gewonnen. Jetzt wollte sie noch unbedingt eine olympische Medaille. "Turnen ist nicht Spiel und Spaß," sagte sie einmal. "Es ist mein Leben."
Aufgeben ist keine Option für Elisabeth Seitz
Wer so denkt, der kämpft bis zum Schluss. Zwei Tage nach ihrem Trainingsunfall wurde sie operiert, eine Woche später stand sie schon wieder im Kraftraum. Mit unbändigem Willen und Ehrgeiz kämpfte sich Seitz wieder zurück. "Come back stronger" – ihre Teamkolleginnen hatten ihr ein Trikot mit dieser Aufschrift geschenkt. Die im Athletenkreis beliebte Seitz trug es auch jetzt wieder bei der finalen Olympia-Qualifikation. Ja, sie war tatsächlich stärker aus der Krise herausgekommen. Die mental enorm starke Ausnahmeturnerin zeigte es allen Zweiflern und klugen Ratgebern. Auch wenn es letztlich nicht mit dem Olympia-Ticket klappte, bleibt ihre Botschaft unmissverständlich und mutmachend: Aufgeben ist für sie keine Option.
Turnen | Olympia Helen Kevric für Olympia nominiert - Lukas Dauser trotz Verletzung dabei
Helen Kevric hat den Zweikampf mit Elisabeth Seitz um das letzte Olympia-Ticket für sich entschieden. Bei den Männern darf Lukas Dauser trotz Verletzung für Paris planen.
Die Olympischen Spiele in Paris sind ständig präsent
Die Tage nach Rüsselsheim verbringt sie im Kreis ihrer Liebsten. Hier wird der Familienmensch Seitz aufgefangen, hier spürt sie, dass sie geliebt ist – unabhängig von einem Olympia-Ticket. Die ehrgeizige deutsche Rekordturnerin wird sicherlich einige Tage brauchen, um ihre Traurigkeit und Enttäuschung zu überwinden. Sie wird aber auch etwas durchatmen, weil der enorme Druck der vergangenen Monate der Erleichterung weichen darf.
Die Spiele in Paris sind dennoch ständig präsent. In ihrer Freizeit baumelt an ihrer Halskette ein Anhänger mit den Olympischen Ringen. In Paris wird Elisabeth Seitz auf jeden Fall dabei sein. Die ARD hat sie als Turn-Expertin verpflichtet. Falls sich eine deutsche Olympia-Starterin noch verletzen sollte, wäre Seitz bereit. Sie hält sich als erste Reserve-Turnerin fit.
Bei Eli Seitz ist nichts unmöglich.